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Der Besen im System

Titel: Der Besen im System Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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seines Lebens zur Heimat werden wird, und die geradezu schmerzlich schöne Frau ist halb wahnsinnig vor Schmerz und Liebe zu ihrem Mann, und der Dentist liegt da in ewiger Nacht, gelähmt und aller sensorischen Eindrücke beraubt. Allerdings nicht, ich wiederhole, nicht vollständig incommunicado.«
    »Jetzt guck dir meine Socken an: ganz schwarz. Ich sag dir was, Rick, das liegt nur an dieser billigen Sorte Sand. So ein Mist.«
    »Nein, keineswegs incommunicado, denn etwas, wie dir schnell aufgehen würde, etwas Wichtiges besitzt er noch in seiner ewigen, aller Eindrücke beraubten Nacht. Eine winzige Stelle am verwüsteten Körper des Dentisten hat sich in geringem Umfang die Empfindungs- und Bewegungsfähigkeit bewahrt, nämlich die Mitte seiner Oberlippe. Und incommunicado deshalb nicht, weil der Dentist als gestandener, vorbildlicher Pfadfinder natürlich das Morsealphabet beherrscht, und zwar tipptopp.«
    »Morsealphabet? Auf die Lippen?«
    »Richtig. Dadurch wird die Weitergabe von Informationen an den Dentisten möglich, durch An- oder Eintippen der Wörter per Morsealphabet. Der Empfang von Botschaften ist ebenfalls möglich, setzt aber voraus, man ist gewillt jeden Buchstaben des Morsealphabets nacheinander einzugeben und dann auf eine winzig kleine, herzzerreißend schwache Reaktion der Oberlippe zu warten, sollte der richtige Buchstabe erreicht sein. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass sich der Empfang von Botschaften aus dem zerschmetterten Körper des Dentisten extrem zeitaufwändig und kompliziert gestaltet.«
    »…«
    »Hingegen gestaltet sich die Weitergabe von Informationen an den Dentisten umso leichter. Deshalb sucht die theoretisch-zahnheilkundliche Gemeinschaft des Mittleren Westens dringend jemanden mit guten Morsekenntnissen in Wort und Schrift aus dem Großraum Indianapolis, nicht nur aus Respekt vor ihrem zerschmetterten Mitglied, sondern auch um dieses Mitglied über die neusten Entwicklungen auf dem Gebiet der theoretischen Zahnheilkunde auf dem Laufenden zu halten, womöglich sogar mit dem Ziel, sich auf diese Weise in einigen hartnäckig ungelösten, drängenden Fragen seiner, wenn auch verständlicherweise noch so kleinen Mitarbeit zu versichern. In der Zwischenzeit hat die geradezu schmerzlich schöne Frau den Morsecode erlernt, sodass sie sich auf einer persönlichen Ebene mit dem zerschmetterten Dentisten unterhalten kann. Sie besucht ihn jeden Tag, berichtet ihm von interessanten Ereignissen und tröstet ihn damit, dass sie ihm ihre unendliche Liebe auf die Lippe tippt et cetera. Ja, sie liest ihm per Morsealphabet sogar ganze Romane vor, denn der Dentist war, noch im Besitz seines Augenlichts, eine echte Leseratte. Und hier vor allem Frank Norris' ganz erstaunlichen Roman McTeague , den der Dentist vor seinem schrecklichen Unfall angefangen hatte zu lesen und den sie ihm mitbringt und in dem es, wie sie schon auf Seite eins sieht, um die Abenteuer eines Zahnarztes geht, die der Dentist – sie merkt es an seinen mikroskopischen, herzzerreißenden Lippenzuckungen – gerne morsekodiert vorgelesen bekommt.«
    »...«
    »Unterdessen geht der Psychologe, der natürlich von dem schrecklichen Unfall erfahren hat, sämtliche theoretisch-zahnheilkundlichen Fachzeitschriften durch und stößt bei seiner Suche nach weiteren Informationen über die körperlichen und professionellen Vorzüge des Dentisten auf eine Anzeige, in der ein Morsetippser aus dem Großraum Indianapolis gesucht wird, bevorzugt mit zahnheilkundlichem Hintergrund, worauf der Psychologe sich umgehend bewirbt, obwohl sich, wie wir erfahren, seine einzige Morseerfahrung auf den Umgang mit einem Lone-Ranger-Ring aus Plastik aus einem Kaugummiautomaten beschränkt, auf dem das Morsealphabet verzeichnet war und mit dem er als kleiner Junge leider nur doofe Werbung für Ralston-Frühstücksflocken dekodieren konnte, die am Ende jeder Lone-Ranger-Folge in Indianapolis scheinbar so geheimnisvoll durch den Äther piepste.«
    »Lone-Ranger-Ring? Ralston?«
    »Er stellt sich darüber hinaus als begeisterter theoretischer Amateurdentist vor et cetera. Natürlich treibt den Psychologen allein das Motiv, sich wieder in Arm und Schoß und ganz allgemein Besitz der geradezu schmerzlich schönen Frau zu bringen, deren Zustand, wie er und wir ahnen, wieder auf der Kippe steht. So taucht der Psychologe also eines Tages im Krankenzimmer des Dentisten auf, beladen mit Fachliteratur, und er und die Frau erneuern ihre Bekanntschaft, denn die

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