Der Besen im System
vorneweg, denn er war nicht nur schnell, sondern von jener geradezu übermütigen Gewandtheit, welche die anderen Jungen schon zu Fall brachte, sobald sie nur versuchten, ihn anzugreifen. Fühlt es mir nach, wie es war, den Jungen anzuschauen, mit seinem Barett und dem langen Mantel, der im Wind flatterte, Frucht meiner Lenden. Vance war ein Junge, dem Touchdowns selbst aus großer Entfernung gelangen und der biedere Muttis mit festem Schuhwerk und Plastik-Regenhauben zu Beifallsstürmen hinreißen konnte, ich habe es noch im Ohr, dieses dünne Klatschen vom Sportplatzrand, das vom Wind mitgerissen wurde wie Papierfetzen, genauso wie das matte Geräusch meiner Lederhandschuhe. Der einzige Junge auf dem Platz, bei dem der Helm nicht zu groß war und dadurch lächerlich wirkte. Ein blonder, dunkeläugiger Knabe, der sich niemals aufspielte, der anderen aufhalf, wenn sie hinfielen, und ihnen einen Erfolg nicht missgönnte. Bis wir zurückfuhren nach Hause, da saß er schweigend neben mir im Wagen und spielte später auf seinem Zimmer amerikanische Geisel in Teheran nach.
Seine letzte historische Großtat vollführte er mit elf, zu Beginn des Schuljahrs. Ein russischer Düsenjäger hatte auf hoher See einen Jumbojet abgeschossen. Kongressabgeordnete, Nonnen und Kinder waren dabei ums Leben gekommen, und an den Küsten im Norden von Japan wurden Schuhe, abgetrennte Ärmel, Taschenbücher und Brillengestelle angeschwemmt. Stundenlang starrte Vance auf die Fotos der Opfer in den Zeitungen, stark vergrößerte Familienschnappschüsse vor grüner Gartenkulisse, steife Lichtbilder aus Schuljahrbüchern, billige Abzüge von Cheerleadern mit Pappnasen. Er schaute den Menschen auf den Bildern in die Augen. Einen Tag später kletterte er auf unser Dach und sprang dann in die Tiefe. Alles ohne einen Laut. Wir haben ein ebenerdiges Haus mit Souterrain, der Sturz war also nicht höher als vier Meter und endete lediglich mit einem verstauchten Fuß. Vance entschuldigte sich. Am nächsten Tag sprang er abermals, und diesmal brach er sich den Knöchel. Er kam ins Krankenhaus, wo man ihn von Abteilung zu Abteilung weiterreichte, ehe er zu einem Spezialisten am Central Park überwiesen wurde, der Vance in nur einer einzigen Sitzung »heilte« – wovon auch immer. Jedenfalls war Veronica heilfroh. Ich persönlich dagegen hatte nie den Eindruck gehabt, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte, auch wenn der Sprung vom Dach so nicht hinzunehmen war. Ich war traurig.
Überhaupt begann danach eine sehr traurige Zeit. Je älter Vance wurde, desto jünger und trauriger wurde ich. Veronica zog sich immer weiter in ihren Glaskasten aus höflicher Gleichgültigkeit zurück. Auf ihr Drängen verabredete sich Vance widerwillig mit ein paar Mädchen, aber soweit ich weiß, blieb es bei einmaligen Versuchen. Still wartete Vance auf den Eintritt der Pubertät, und die Pubertät wartete bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr. Er büßte seinen Vorsprung an Körpergröße und -kraft ein, und die kalten, windigen Tage am knirschenden Spielfeldrand waren ein für allemal vorüber. Musik drang aus Vance’ Zimmer, er hatte bunte Kreide an den Händen und schwarze Ränder unter den Augen. Und dann seine wunderschönen Zeichnungen – so eben, so klar und so traurig wie unsere Einfahrt, das heißt so glatt und ohne Risse und Kanten wie seine Mutter. Und der süßliche Geruch von Marihuana blieb in seinem Zimmer. Im Augenblick studiert Vance in Fordham Kunst. Ich habe seit einem Jahr nicht mehr mit ihm gesprochen. Ich weiß nicht, warum das so ist.
Ich vermisse Vance mit einer Heftigkeit, die wir sonst nur für diejenigen übrig haben, die für immer von uns gegangen sind. Vance existiert nicht mehr. Ein Therapeut auf der Park Avenue, der uns einhundert Dollar für seine Leistungen berechnete, hat ihm 1983 das Mark ausgesaugt. Inzwischen ist Vance, wie mir zu Ohren kam, nicht nur homosexuell, sondern auch drogenabhängig. Von allen Schlacken befreit dreht er sich im kalten Scarsdale-Atem seiner Mutter und produziert seine glatten, seelenlosen Kreidezeichnungen mit immer größerer Präzision. Auch mir hat er einmal eine Zeichnung geschickt. Sie zeigt mich mit Harke im Garten erschrocken aufblickend, während eine überproportional große Veronica hinter mir auftaucht und ein schwarzes Tablett mit Getränken vor sich her trägt. Da das Bild jedoch in einem braunen Umschlag kam, der überdies an die Frequent Review adressiert war, lag es erst einmal wochenlang
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