Der Besen im System
ungeöffnet im Eingangskorb.
Ich vermisse Lenore. Ich vermisse alle. Ich weiß noch, wie ich als junger Mensch einmal so ähnlich gefühlt habe und dieses Gefühl als Heimweh identifizierte. Aber im Hinblick auf meine jetzige Situation denke ich: Komisch, woher kommt das nur? Ich war all die Jahre doch gar nicht weg. Was um alles in der Welt hat das zu bedeuten?
Mit aller Kraft meiner lila Faust liebe und vermisse ich dieses seltsame Mädchen aus diesem überspannten und Angst einflößenden Familienclan. Obwohl sie selber nicht weniger überspannt und Angst einflößend ist, hoch oben auf dem Ausguck der Frequent & Vigorous, wo sie die graue elektrische See nach dem einsamen Maul eines korrekten Anrufs absucht. Ms. Peahen hat mich darüber informiert, dass die Wahrscheinlichkeit eines solchen aufgrund der anhaltenden Betriebsstörung noch geringer ist als zuvor. Und jetzt sitze ich hier, während mein Büro langsam im Schatten des Erieview Towers ersäuft, und Lenores Schicht ist schon zur Hälfte vorbei. Es ist ein Uhr. Meine eingeschaltete Schreibtischlampe schwärzt die schattige Hälfte meines Büros lakritzenhaft und grellt die sonnige zu einem weißlich-gelben Horror auf, in den man nicht schauen mag. Lenore, ich versuche es jetzt noch ein letztes Mal, und wenn du dann nicht da bist, gehe ich vom Schlimmsten aus und werfe mich Moses Cleaveland in die Arme, der mich aus sechsstöckiger Tiefe mit bleichem Grinsen willkommen heißt. Das ist unsere letzte Chance.
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Während sich Lenore durch die Flut fehlgeleiteter Anrufe wühlte und nebenher versuchte, Karl Rummage von Rummage & Naw zu erreichen, trat hinter ihr Walinda Peahen in die Kabine.
»Hallo, Walinda«, sagte Lenore. Walinda ignorierte sie und sah stattdessen die Liste eingegangener Anrufe durch, ein erbärmlich dünnes Heft mit lediglich zwei beschriebenen Seiten. Judith Prietht hatte die Besetzt-Taste gedrückt und unterhielt sich auf dem Privatanschluss mit einer Freundin.
»Was sind das eigentlich für Nachrichten, die Candy dir hier aufgeschrieben hat? Das ist doch Candys Schrift, oder?«
»Das sind Nachrichten für mich, denn andere gibt es ja nicht«, sagte Lenore.
»Mädchen, übertreib es nicht. Du meinst, du kannst mich für blöd verkaufen. Du hast um zehn Uhr hier zu sein. Aber ich sehe zwei Nachrichten für dich, einmal um elf und dann um elf Uhr dreißig.«
»Ich war leider verhindert. Candy hat gesagt, sie übernimmt so lange für mich.«
»Die Irre von Frequent & Vigorous kriegt gerade einen Einlauf von ihrer Vorgesetzten«, sagte Judith Prietht in den Hörer und beobachtete die Szene.
»Verhindert, wo? Wie stehe ich jetzt da? Ich bin der Meinung, du bist an deinem Platz, aber du bist nicht mal im Haus.«
»Ich musste dringend zum Altenheim.«
»Wie lange war sie denn wirklich weg?«, wollte Walinda von Judith Prietht wissen.
»Tut mir Leid, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich will nicht, dass jemand hier Ärger bekommt«, sagte Judith Prietht zu Walinda. Und ins Telefon sagte sie: »Ihre Vorgesetzte hat gefragt, wann sie gekommen ist. Aber ich sagte, das kann ich ihr nicht sagen, weil ich nicht will, dass hier jemand Ärger bekommt.«
»Um kurz nach zwölf war ich hier.«
»Um kurz nach zwölf. Na toll, das ist zwei Stunden zu spät.«
»Es war ein Notfall.«
»Was für ein Notfall?«
Judith Prietht war verstummt und verfolgte aufmerksam, was weiter passierte.
»Das kann ich Ihnen jetzt nicht erklären«, sagte Lenore.
»Mach das nochmal, und du brauchst nicht wiederzukommen. Es ist mir egal, wen du hier noch alles verarschst, aber mich nicht. Mich nicht, ist das klar?«
Die Anlage piepte, und der Schalter blinkte aufgeregt, denn es war ein Hausgespräch.
»Finger weg, sonst kannst du gleich gehen«, sagte Walinda zu Lenore. Sie ergriff den Hörer und drückte den Knopf. »Zentrale ...« Doch ihre Brauen sanken sofort wieder. »Ja, ist sie, Mr. Vigorous. Sie ist hier. Eine Sekunde, bitte.« Sie hielt die Hand über die Muschel, als sie Lenore den Hörer gab. »Mir egal, wie sehr du dieses kleine Würstchen beeindruckst, du bist jedenfalls gefeuert«, fauchte sie.
»Jetzt ist es passiert. Offenbar kriege ich hier bald eine neue Kollegin«, sagte Judith in den Hörer.
»Hi, Rick.«
│6│ 1990
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»Wie sind die Steaks heute Abend?«
»Unsere Steaks, Sir, sind, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, einfach süperb. Wir verwenden nur ausgesuchte, bestens abgehangene Stücke, die anschließend
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