Der Besen im System
fressen, raunt etwas von der besonderen Bedeutung dieses Buches für sie, die Urenkelin, sagt aber nicht, worin dieses Besondere besteht, sagt es »noch nicht« jedenfalls, ja, will ihr das Buch nicht einmal zeigen, wie gesagt »noch nicht«. Alle diese Wörter, dieses ominöse Buch, der Glaube an eine Welt aus Wörtern, dazu Lenores Überzeugung, dass ihr das eigene Leben weder gehört noch für sie gedacht ist: Also, ich kann mir nicht helfen, hier stimmt etwas nicht. Lenore leidet unter diesem Zustand, und deshalb sähe ich es gar nicht so ungern, wenn die Alte bald abträte.
In demselben Wohnheim wohnt übrigens ihre zwanzig Jahre jüngere Tochter. Eine schöne Frau, trotz ihres Alters, ich habe sie selbst gesehen. Klare braune Augen, Wangen von blassem Rosenrot und Haare wie flüssiges Silber. Verblödet von Alzheimer, weiß sie weder wer noch wo sie ist, und der Speichel rinnt ihr über die schönen, beinahe noch jugendlichen Lippen. Lenore hasst sie, beide Lenoren hassen sie. Warum, weiß ich nicht.
Die Haare von Lenores Urgroßmutter sind weiß wie Baumwolle und hängen ihr in lockigen Strähnen beidseits bis unters Kinn hinunter, wo sie sich wie die Beißwerkzeuge eines Insekts beinahe berühren.
Oft liegen wir zusammen im Bett, und Lenore bittet mich, ihr eine Geschichte zu erzählen. »Eine Geschichte, bitte«, sagt sie dann. Und ich erzähle ihr, was andere Leute mir erzählt haben und von dem sie sich wünschen, dass sie mir gefällt und dass ich es deshalb wieder anderen Leuten zugänglich mache, damit es auch diesen gefällt. Geschichten, die in braunen Umschlägen bei der Frequent Review eintreffen, zusammen mit einem frankierten, adressierten Rückumschlag und Begleitschreiben, die »mit hoffnungsvollen Grüßen« schließen. Und obwohl alle diese Geschichten nicht meine eigenen sind, bin ich bei Lenore ganz ich selber.
Aber ich kann auch traurig sein. Ich vermisse meinen Sohn. Veronica dagegen fehlt mir überhaupt nicht. Veronica war schön. Lenore ist hübsch und besitzt eine Eigenart, die, darauf haben wir uns ja geeinigt, mit dem Spiel zu tun hat. Veronica war schön. Aber es war die Schönheit eines strahlenden Wintermorgens, eine unerreichbare Schönheit. Ihre Haut war kühl und straff und fühlte sich gleichzeitig weich an, und an allen erwünschten Stellen zierte sie eisblondes Haar. Sie war anmutig, aber nicht zerbrechlich. Sie war liebenswürdig, aber nicht freundlich. Sie war das reine, nahtlose, rückstandsfreie Vergnügen – aber nur bis zu dem Moment, in dem sich die Interessen der anderen nicht mehr mit ihren deckten. Zwischen ihr und dem Rest der Menschheit lag ein Abgrund unterschiedlicher Interessen, ein Abgrund, der sich grundsätzlich nicht überbrücken ließ, weil er nur eine Seite hatte. Nämlich die Veronica-Seite. Man könnte auch sagen, Veronica war unfähig zur Liebe. Zumindest soweit es mich betraf.
Auf körperlicher Ebene entwickelte sich unsere Ehe vom Horror zum neutralen Nichts. An unsere Hochzeitsnacht möchte ich gar nicht mehr denken, geschweige denn davon erzählen. Nur so viel: In dieser Nacht flog in vielerlei Hinsicht der Schwindel auf. Doch Veronica fand sich nicht nur mit der Situation ab, sie freundete sich sogar damit an. So ersparte sie sich die Mühe und die pikante Scham, sich für mich zu schämen. Meines Wissens ging sie nicht einmal fremd. Ihre ganze Existenz, ihre Schönheit und ihr ganzer Wert waren ausschließlich ästhetischer und nicht körperlicher oder emotionaler Natur. Ich glaube auch heute noch, dass Veronica mit einem Dasein als menschliches Ausstellungsstück in einem hellen, kühlen Museum durchaus zufrieden wäre. Mit einem roten Absperrseil getrennt von der allzu physischen Menschheit, dringen nur hallende Schritte und halblaute Worte an ihr Ohr. Veronica lebt mittlerweile von meinen Unterhaltsschecks und bereitet sich, wie man hört, auf die Heirat mit einem alten, aber nicht unsympathischen Unternehmer aus New York vor, der Steueranlagen für Kraftwerke herstellt. Geh mit Gott, aber geh.
Aber mein Sohn fehlt mir. Was mir hingegen nicht fehlt, ist ein achtzehnjähriger Ästhet aus Fordham mit transparent lackierten Nägeln und Hosen ohne richtige Taschen. Mir fehlt mein Sohn . Mein Kind. Ich bin immer noch überzeugt, er war ein Kind der Wunder. Mit ganz besonderen Fähigkeiten. Ein besonderes und ein lustiges Kind. Eines der vielen Dinge, die sich Veronica nicht mehr zumuten wollte, betraf das Windelwechseln, also übernahm ich
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