Der bessere Mensch
hatte.
„Gerne … aber alkoholfrei bitte.“
Der Psychiater verschwand in einem Nebenraum, aus dem Schäfer hörte, wie sich eine Flasche zischend öffnete und Eiswürfel aus der Form gebrochen wurden. Kurz darauf kam sein Gastgeber zurück und stellte zwei Gläser auf die Glasplatte eines Beistelltisches.
„So“, der Psychiater ließ sich in einen Lederfauteuil fallen, „da haben Sie mir eine schlaflose Nacht bereitet. Aber auch eine sehr fesselnde, wie ich sagen muss …“
„Was haben Sie herausgefunden?“
„Herausgefunden ist vielleicht ein wenig übertrieben … zumindest muss ich meine Ansicht revidieren, dass es sich um ein fiktives Projekt handelt, dafür stehen einige Passagen zu sehr auf empirischer Basis, werden moderne bildgebende Verfahren erwähnt, Gewichtsangaben verabreichter Medikamente… da kann es sich nur um Testreihen handeln, die auch tatsächlich stattgefunden haben, alles andere ergäbe keinen Sinn …“
„Und …“, Schäfer ahnte jetzt schon, dass er bald um einen Dolmetscher betteln würde, „was hat der Autor genau gemacht?“
„Wenn ich mich auf die Auszüge konzentriere, wo es sich um menschliche … also sagen wir, Probanden handelt … dann geht es im Wesentlichen um Beeinträchtigungen des präfrontalen Cortex und benachbarter Areale … Verletzungen, degenerative Erkrankungen … wobei es neben der primär medizinischen Behandlung parallel auch um neurobiologische Fragen geht, also etwa um Verhaltensmuster, soziale Fähigkeiten, die mit dem defekten, respektive in Behandlung befindlichen Gehirn des Probanden korrelieren … “
„Haben Sie nicht so eine Art Übersicht oder Lexikon für Volksschulklassen, damit ich ungefähr nachvollziehen kann, wo im Gehirn sich das alles abspielt …“, unterbrach Schäfer die Ausführungen des Psychiaters.
„Natürlich … entschuldigen Sie … wir alten Knacker sind schon so von unserem Fach eingenommen, dass wir glauben, dafür müsste sich jeder interessieren.“
Er stand auf, machte ein paar Schritte zum Bücherregal und klopfte mit dem Zeigefinger der rechten Hand ein paar Bücher ab, bevor er einen dicken Folianten herausnahm.
„Das da ist gut … alt, aber gut.“ Er blätterte den Wälzer durch, bis er eine doppelseitige Übersicht des menschlichen Gehirns gefunden hatte.
„Hier!“, sagte er und zeigte auf den vorderen Stirnbereich, „der Cortex und seine angrenzenden Areale … bei dieser Untersuchungsreihe ist das Gehirn des Patienten im Bereich der Hippocampi sowie an der Amygdala, die sehen Sie hier, lädiert … wahrscheinlich aufgrund einer bakteriellen Entzündung, da fehlen mir noch ein paar Codierungen … in weiterer Folge, wann genau, kann ich Ihnen leider auch nicht sagen, wurde der Cortex durch eine schwere mechanische Verletzung lädiert …“
„Ähm … ich finde das zwar sehr interessant, aber können Sie mir nicht kurz einen Anhaltspunkt geben, worauf das hinausläuft?“
Der Psychiater sah Schäfer fragend an und fasste seine Nasenwurzel zwischen Zeigefinger und Daumen.
„Ich will’s versuchen … meine didaktischen Fähigkeiten waren zwar nie die besten, aber ich will’s versuchen. Nun denn: In der Neurobiologie und Psychiatrie gibt es ein Feld, das sich mit den Einflussfaktoren des Gehirns von Menschen mit sozial abnormem Verhalten eben auf deren Verhalten beschäftigt … ja … da gibt es wie immer verschiedene Theorien, doch eine weitgehend anerkannte Hypothese besagt, dass frontale Läsionen beziehungsweise Minderfunktionen das soziale Verhalten wesentlich beeinflussen können. Diese Erkenntnis geht bis ins Jahr 1848 zurück, als einem amerikanischen Eisenbahnarbeiter namens Phineas P. Gage bei einem Arbeitsunfall eine Eisenstange das Gehirn von links unten nach rechts oben durchbohrt hat … Gage überlebte dieses Trauma wie durch ein Wunder, mit normaler Gedächtnisleistung und Intelligenz, ungestörter Sprache, Sensorik und Motorik … sein Verhalten jedoch hatte sich grundlegend verändert. Der vormals verantwortungsbewusste Familienvater und Vorarbeiter wurde unzuverlässig, launisch, aggressiv, respekt- und verantwortungslos und fluchte wie ein Rohrspatz … nun gut … jedenfalls war dieser Fall ein Wegbereiter für weitere Studien, die bestätigten, dass Verletzungen der linken und rechten Präfrontalregion Defekte in Entscheidungsfindung und Emotionsverarbeitung begründen, da in diesem Bereich die Verarbeitung von Botschaften sowie die Impulskontrolle geschieht …
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