Der bessere Mensch
Einsatzfahrzeuge vor dem Haus hatten neben zahlreichen Schaulustigen auch die ersten Reporter angezogen, die auf die anwesenden Polizisten einredeten.
„Was machen wir mit der Presse?“, wandte sich Schäfer an Kamp.
„Mladic hat eine Kugel in der Brust … also ist er erschossen worden, nicht sehr ungewöhnlich für einen Mann seines Gewerbes. Mehr gibt es vorerst nicht.“
Im Parterre traf Schäfer auf Kovacs, gab einen kurzen Überblick und teilte ihr das weitere Vorgehen mit. Die Personalien aller Nachbarn aufnehmen und die Befragung möglichst kurz halten, da es schließlich schon nach Mitternacht war. Und dann sollten sie zusehen, selbst noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Die nächsten Tage würden anstrengend werden.
Als Schäfer kurz nach zwei den Wagen vor seinem Wohnhaus abstellte, rief Isabelle an. Zwei Stunden hatten sie im Flieger auf den Start gewartet, jetzt war sie endlich zu Hause. Ob irgendwas nicht in Ordnung mit ihm sei, wollte sie schließlich wissen. Sie würde ihm jetzt schon fehlen, bemühte er sich um eine Ausrede für seine wortkarge Verstimmtheit. Dann erzählte er ihr doch, was passiert war.
Um viertel vor drei lag er erschöpft in seinem Bett; ohne Schlaf zu finden. Das Thermometer stand noch immer bei dreißig Grad und er erwartete jeden Augenblick, dass das Telefon läutete. Es habe Komplikationen gegeben, ein verletztes Gefäß, eine unstillbare Blutung … nein, so durfte er nicht denken … der Notarzt hatte seine Zuversichtlichkeit nicht vorgespielt … ein Durchschuss im Oberarm, ein Steckschuss im Schlüsselbein, nichts, das einen Mann wie Bergmann gefährden konnte. Und jetzt, da Schäfer in der Stille seines Schlafzimmers lag und die Minuten nach dem Betreten von Mladics Wohnung wieder und wieder in seinem Kopf abspielte, glaubte er auch zu wissen, warum er so gelassen reagiert hatte. Natürlich, seine Sorge hatte Bergmann gegolten, da war kein Platz für die eigenen Befindlichkeiten. Doch der Mann vor ihm, der starre Arm, die Waffe auf seine Stirn gerichtet … Schäfer stand auf, taumelte ins Bad und erbrach sich ins Waschbecken. Zitternd und mit kaltem Schweiß auf Stirn und Rücken setzte er sich auf die Fliesen. Todesangst, das kannte er, hatte vergangenes Jahr ohne realen Anlass darunter gelitten, die Tabletten hatten geholfen. Jetzt kannte er wenigstens den Grund. Das letzte Mal, dass ihm jemand eine Waffe an den Kopf gehalten hatte und sich offensichtlich überlegt hatte, ob er abdrücken sollte, war genau fünfzehn Jahre her, dieses Datum würde Schäfer nie vergessen, auch wenn er es tief unter dem anderen, harmloseren Mist in seinem Kopf vergraben hatte. Und dieser Moment jetzt, das verzögerte Eintreten der Angst, wie ein Déjà-vu, die Wiederkehr eines Ereignisses, von dem er noch nie jemandem erzählt hatte; er hatte die Wahrheit verschwiegen, weil es keinen Unterschied gemacht hätte; weil sich das Schwein ohnehin am nächsten Tag eine Kugel in den Kopf geschossen hatte. Vor allem aber, weil es ihm peinlich gewesen war. Und jetzt: Flashback.
Es war der dritte Tag, den sie hinter ihm her waren. Schäfer als junger Inspektor, wegen des getöteten Gendarmen genauso erregt und wütend wie die Kollegen, mit denen er den Wald nahe der deutschen Grenze durchkämmte. Wie Jäger, die auf der Jagd nach der Bestie selbst wild geworden waren, war jeder von ihnen scharf darauf, den tödlichen Schuss abzugeben. Kamp hatte ihnen eingebläut, dass sie sich zu keinen Kurzschlusshandlungen hinreißen lassen durften. Doch er hatte es als Formel ausgesprochen und nicht als etwas, von dem er selbst überzeugt war – dann hörte sich Kamp anders an.
Über sich sah Schäfer zwischen den Baumwipfeln den Himmel blau strahlen; doch dort unten sorgte der dichte Wald schon jetzt für den Einbruch der Dunkelheit. Jeder von ihnen ein besessener Einzelkämpfer, zerstreuten sie sich immer weiter, bis Schäfer keinen seiner Kollegen mehr sehen konnte. Er war eben im Begriff, sich auf einen Baumstumpf zu setzen, um eine Zigarette zu rauchen, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Er griff zu seinem Sturmgewehr, hob den Schaft an die Schulter und richtete sich langsam auf. Konzentriert schaute er auf die Stelle, wo er den Mann wähnte; als plötzlich wesentlich weiter rechts jemand zu rennen begann und dabei immer wieder hinter einem Baum verschwand. Schäfer wollte schon abdrücken; doch bei aller Wut, die er in sich hatte, weigerte er sich, auf jemanden zu schießen,
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