Der bessere Mensch
zurzeit in Den Haag einsaß; ein Folterer, der mit seinen Experimenten Hunderte Kinder ermordet hatte. War das der Grund dafür, dass der Junior zum Menschenfreund geworden war? Die Schuld des Vaters zu tilgen, auf die bestimmt nicht nur das Internet erbarmungslos und fast alttestamentarisch zeigte, wenn man etwas über die Person Gernot Hofer erfahren wollte? Hatte gar das Böse des Alten den Jungen gut gemacht? Das ist mir jetzt ziemlich wurscht, unterbrach Schäfer seine gedankliche Ausflugsfahrt, wenn nur Väter nicht so selbstverliebt wären und ihren Söhnen den eigenen Vornamen aufbürden würden. Jetzt schicke ich die Mail von Kovacs an Jakob weiter, und spätestens morgen muss ich mit ihm über Hofer reden. Vielleicht hat er den jungen Kastor ja verpfuscht, ihm einen Hirnschaden verursacht, der jetzt einen späten Rächer auf den Plan gerufen hat oder … ich brauche meine Kollegen!
„Was darf’s denn noch sein, der Herr?“, wollte der Barmann wissen.
„Wie … ach so … ja, zahlen bitte“, erwiderte Schäfer, ungewiss, ob er eben laut gedacht hatte.
Gleich nach dem Aufstehen rief er in Wien an und beauftragte Kovacs damit, Informationen über Gernot Hofer und weitere mögliche Verbindungen zu Kastor zusammenzutragen. Dessen Name in der Krankenakte hatte Schäfer eine unruhige Nacht beschert, die durch ein heftiges Gewitter kurz nach Mitternacht noch schlafärmer geworden war. Er hatte sich in endlosen Spekulationen ergangen, die sich in seinem Kopf mangels konkreter Fakten zu grotesken Szenarien verselbständigt hatten. Kastor als ehemaliges Mitglied einer Geheimorganisation, eines Clans zionistischer Verschwörer, die sich nun für seinen Tod rächen wollten … an Mladic? Schwachsinn! Oder überhaupt ein Irrer, der die berüchtigtsten Verbrecher der österreichischen Kriminalgeschichte zitierte. Dann war bei Born vielleicht sogar ein anderer Mörder als Kastor gemeint und sie hatten den Hinweis übersehen. Sollten sie das Haus noch einmal auseinandernehmen? Nach irgendwas suchen, einem Knoten, der an Jack Unterweger, einem Wecker, der an Franz Fuchs erinnerte? Blödsinn, alles reine Hirnwichserei. Das hatte Kamp nun davon, dass er ihn allein in dieser Salzburger Pensionszelle vegetieren ließ, ohne Mitarbeiter, vor allem ohne Bergmann, der ihm die nüchternen Fakten beschaffte und Schäfer damit Bodenhaftung verlieh. So trieb es ihn wie ein hilfloses Blatt umher, er bekam viel zu sehen und konnte doch nirgends bleiben. Er kannte diesen alten Fall auch viel zu wenig, und obendrein nur aus der Polizei-Perspektive. Wie sie ihn 1994 nach dem Mord an seinen Eltern endlich verhaften und anklagen hatten können. Wie es ihm trotz strenger Sicherheitsvorkehrungen gelungen war, zu Beginn des Prozesses zu fliehen. Wie sie ihn gejagt hatten, wie er sich selbst gerichtet hatte. Wie sie die Akte geschlossen hatten. Doch nun tropften aus Schäfers Gehirn wie durch ein sich vergrößerndes Leck neue Informationen auf das Bild herab und begannen die Farben zu verwischen. Warum war Kastor damals in Österreich geblieben, wo er sich vom Waldviertel viel einfacher über die tschechische Grenze hätte absetzen können? Hatte er für seine Flucht nicht einen Helfer haben müssen? Der ihm Unterschlupf gewährt, ihn vielleicht sogar mit einem Wagen versorgt hatte? Und wieso hatten sie diese Möglichkeit nach seinem Tod so schnell abgetan? Gab es einen Grund dafür, dass er dorthin geflohen war, wo Gernot Hofer arbeitete, der Arzt, der ihn als Kind behandelt hatte? Schäfer dachte an die technischen Möglichkeiten, mit denen er in der Jetztzeit diese Spekulationen überprüfen könnte: Anruflisten, Handyortung, E-Mail-Verkehr, Bankomatbehebungen, Überwachungskameras … man konnte kaum mehr etwas unternehmen, ohne ein dichtes Netz an Spuren zu hinterlassen. Doch damals … und damals war in diesem Fall noch nicht einmal zwanzig Jahre her … damals hatten sich weder die Verbrecher noch ihre Verfolger damit herumzuschlagen.
Er rief seinen Bruder an, erreichte aber nur die Mailbox. Er überlegte kurz, ob er ihm eine Nachricht hinterlassen sollte, legte dann aber auf. Mit dem Laptop unterm Arm verließ er die Pension und ging in die Altstadt, um zu frühstücken. Am Rande des Residenzplatzes gab es ein berühmtes Kaffeehaus, dessen Ruf die typischen Salzburgtouristen allerdings erst ab Mittag folgten, weshalb sich Schäfer von den vielen noch freien Tischen einen an der Hauswand unter der Markise nahm. Auch in der Sonne
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