Der bessere Mensch
wäre es noch erträglich gewesen, doch er wollte seinen körpereigenen Frischespeicher so lange wie möglich im blauen Bereich halten. Tagesplan: Auf jeden Fall seinen Bruder aufsuchen und mit ihm die Krankenunterlagen besprechen. Ihn zu Hofer befragen. Dann mit seinen Salzburger Kollegen Kontakt aufnehmen. Obwohl Schäfer über den renommierten Neurologen bisher relativ wenig wusste, hatte er doch schon genug Erfahrungen mit den typisch österreichischen Verstrickungen in den obersten Etagen von Politik, Justiz, Wirtschaft und Gesundheitswesen gemacht, um sich im Klaren darüber zu sein, dass eine Untersuchung in diesem Fall sehr viel Fingerspitzengefühl und auch Beziehungen benötigte. Schäfer sah das Bild förmlich vor sich: Er müsse in einer wichtigen Angelegenheit mit Dr. Dr. Univ. Prof. Hofer sprechen. Morgen, oder eher übermorgen, da ließe es sich vielleicht einrichten … jetzt wäre der Herr Primar gerade bei der Eröffnung der Festspiele … mit dem Herrn Landeshauptmann, dem Bürgermeister, dem Staatsanwalt, dem Unterrichtsminister … Natürlich konnte es auch anders laufen, doch Schäfer ließ sich lieber positiv überraschen als enttäuschen.
Sein Bruder rief zurück: Er sei im Krankenhaus, eine einfache Operationen stünde noch an, dann hätte er kurz Zeit für ihn. Schäfer sah auf die Uhr und beschloss, zu Fuß zum Landeskrankenhaus zu gehen. So ließ es sich besser denken, außerdem gefiel es ihm kurzzeitig, sich im Menschengetümmel auf der Getreidegasse als Tourist zu fühlen, den das Alltagsleben rundum wenig anging. Dann wandte er seinen Blick blitzartig einem Passanten zu, der ihrem Phantombild ähnlich sah. Kismet.
Jakob holte ihn am Empfang ab und führte ihn durch zwei Trakte, lange Gänge und über zwei Stockwerke in einen Aufenthaltsraum, der nichts von der sterilen Atmosphäre ringsum hatte.
„Gemütlich hast du’s hier“, meinte Schäfer und trat auf den Balkon hinaus, der einen schönen Ausblick auf den Mönchsberg bot.
„Na ja … Stand-by halt … willst du was trinken?“
„Kaffee und Wasser … bitte …“
„Ich habe deine Mail ausgedruckt“, sagte Jakob, während er den Geschirrspüler öffnete und eine saubere Tasse herausnahm.
„Und?“
„Was heißt da ‚und‘? … Eine typische Meningoenzephalitis … optimal behandelt, wenn man sich die Folgeuntersuchungen ansieht …“
„Das heißt, Kastor hat keine Folgeschäden davongetragen?“
„Doch, davon gehe ich aus … optimal behandelt heißt ja nicht, dass es dem Patienten optimal geht … die Aufnahmen der Untersuchungen von 1979 zeigen eine Schädigung im Frontallappen … die wird allerdings als abgeheilt bezeichnet … das heißt, keine Erreger mehr … aber ein Schaden …“
„Und mit welchen Auswirkungen?“
„Das ist hier nicht angegeben … das ist eine rein organische Untersuchung und keine, die sich mit den Folgewirkungen befasst …“
„Als da wären?“
„Ich bin Chirurg und kein Neurologe oder Psychiater“, erwiderte Schäfers Bruder und stellte die nun volle Kaffeetasse ab.
„Na ungefähr …“
„Ungefähr, ungefähr“, meckerte Jakob, schob seinen Bruder beiseite und setzte sich an den Computer, der neben der Küchenzeile auf einem Rollwagen stand. „Hörstörungen, Krampfleiden, Hydrozephalus, Hirnnervenlähmungen, Entwicklungsrückstand, Verhaltensstörungen, psychische Defektsyndrome, Ataxien“, zitierte er von einer einschlägigen Seite im Internet.
„So, so“, meinte Schäfer und rührte lange in seinem Kaffee herum. „Diese Gehirnhautentzündung könnte also unter Umständen zu seinem asozialen Verhalten geführt haben …“
„Da gibt es sicher ein paar Wirrköpfe, die dir da zustimmen, aber ich halte von diesen Theorien nichts … zumindest nicht im ausschließlichen Sinn. Ein hirnorganischer Defekt kann dein Verhalten verändern, das steht außer Frage, aber er nimmt niemanden aus der Verantwortung für Verbrechen … schon gar nicht für solche, die dieser Kastor begangen hat …“
„Bergmann hat mir von einem Fall aus Amerika erzählt, wo ein Mann, dem Antidepressiva verschrieben worden sind, von einem braven Familienvater zum Mörder seiner Schwiegermutter geworden ist … und die Pharmafirma ist für mitschuldig erklärt worden …“
„Das ist typisch amerikanischer naiver Kausalismus! Jemand bringt einen um, wird eindeutig überführt, also lässt sein Anwalt ein ganzes Regiment an Gutachtern auffahren, die zwischen der Geburt und dem Mord
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