Der bessere Mensch
aggressive Ausbrüche in den letzten Monaten zu vermuten, wobei sich noch keine Aussagen über einen temporären oder dauerhaften Charakter dieser Störung treffen lassen …
Im Laufe der zweiten Sitzung gelingt eine erste Annäherung, als nicht über die Tat, sondern in allgemeiner Weise über Pauls Leben und seine Familie gesprochen wird. Zu seinen Eltern gibt Paul an, ein sehr gutes Verhältnis zu haben. Obgleich er in der Beschreibung der familiären Beziehungen phrasenhaft spricht und die dabei verwendeten Adjektive (gütig, geduldig etc.) einstudiert wirken, gibt es keine Anhaltspunkte, die auf innerfamiliäre Konflikte schließen lassen. Sowohl Pauls Vater als auch seine Mutter geben glaubhaft an, gegen ihren Sohn nie physische Gewalt angewandt zu haben oder ihn starkem emotionalem Druck ausgesetzt zu haben …
Dritte Sitzung: Paul reagiert auffällig gereizt, als ich ihn eingehender zu seinen schulischen Erlebnissen befrage. Obgleich ihm der Lernstoff keine größeren Probleme zu bereiten scheint und seine Leistungen im besseren Durchschnitt liegen, scheint ihn der Aufenthalt in der Schule zu belasten. Gegen Ende der Sitzung äußert er sich schließlich vage dahingehend, dass er sich wegen seines Sprachfehlers unsicher fühlt. Als ich ihm versichere, dass ich bei ihm keinerlei diesbezügliche Wahrnehmung gemacht habe, wird er unerwartet jähzornig, bespuckt mich und wirft verschiedene Gegenstände von meinem Schreibtisch zu Boden …
Die vierte Sitzung zeigt anfänglich Fortschritte. Zum ersten Mal spricht Paul darüber, dass er Reue und Mitgefühl mit den Opfern des von ihm verursachten Unfalls empfindet. Bezüglich der Wahrhaftigkeit dieser Aussagen lässt sich allerdings kein eindeutiges Urteil bilden, da Paul weder weint, noch seine Emotionen sich in sonstiger Weise zeigen. Eher gewinnt man den Eindruck, dass er sich diese Gefühle aneignen will, da er sie im Laufe unserer Sitzung und wohl auch im Gespräch mit seinen Eltern als eine notwendige und von ihm verlangte Reaktion auf seine Tat anerkennt …
In der fünften Sitzung versuche ich abermals, auf den von Paul erwähnten Sprachfehler einzugehen und herauszufinden, welches Leiden er hierbei imaginiert. Hiervon muss ausgegangen werden, da weder Lehrer noch Familienangehörige irgendwelche Anzeichen einer derartigen Störung je bemerkt haben. Im Laufe des Gesprächs bestätigt sich meine Vermutung, dass Paul sich als Stotterer fühlt. Auch eine Reihe von Sprachtests, die Paul fehlerlos bewältigt, kann ihn nicht von dieser Überzeugung abbringen. Vor der sechsten Sitzung bespreche ich mich mit Dr. Hofer, der eine hirnorganische Untersuchung nahelegt, um eventuelle Anzeichen einer epileptischen Störung zu erkennen …
Schäfer überflog die folgenden Seiten, notierte sich den Namen des Psychologen und schloss das Dokument. Er wollte seine Zeit nicht mit den hölzernen Phrasen eines Schultherapeuten verschwenden. Den Namen des Schulfreundes, mit dem Kastor den Wagen gestohlen hatte, mussten sie herausfinden … und sei es nur, um ein weiteres Schlechtes ins Kröpfchen zu werfen. Was Schäfer mehr zu denken gab, war Hofers abermalige Erwähnung – war der zu dieser Zeit nicht in Magdeburg gewesen? Er schrieb ein E-Mail an Kovacs mit der Bitte, den Psychologen zu befragen und Hofers Aufenthalte in den betreffenden Jahren zu klären. Warum er sich immer noch weigerte, den Neurologen selbst zu befragen, konnte sich Schäfer nicht erklären. Vielleicht konnte ihm sein Bruder ja weiterhelfen. Er nahm sein Handy. Als sich niemand meldete, legte er auf und versuchte es am Festnetz. Jakobs Frau hob ab, erinnerte ihn daran, dass sie Gäste hatten, und holte dann ihren Mann ans Telefon.
„Wenn du schon nicht hier stören kannst, dann wenigstens aus der Ferne, oder?“
„Entschuldigung … nur kurz: Ich wollte dich am Nachmittag eigentlich ein paar Sachen zu Gernot Hofer fragen …“
„Und was genau?“, fragte Jakob skeptisch.
„Wie er ist … wie ich an ihn herankomme …“
„Wieso willst du an ihn herankommen? … Okay, ich verstehe, die Krankenakte … also am besten rufst du einfach an und lässt dir einen Termin geben …“
„Das will ich aber noch nicht …“
„Wieso nicht? Der tut dir schon nichts … Hofer ist ein Guter, der hat mehr für die Klinik getan als …“
„Ja, und seine Stiftungen, und seine karitativen Projekte …“
„Ich verstehe nicht, wieso du dich darüber lustig machst …“
„Tu ich nicht. Ich will nur
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