Der bessere Mensch
nach einem Schalter suchen, den jemand anderer umgelegt und damit den Angeklagten zum Mörder gemacht hat. Dann hast du den Alkoholikervater, die Mutter, die zu sehr oder zu wenig liebt, die mobbenden Mitschüler … oder eben eine Gehirnhautentzündung … wenn ich so was schon höre …“
„Reg dich nicht so auf“, bremste Schäfer seinen Bruder ein, „man wird wohl noch nachdenken dürfen. Außerdem gibt es die Anstalten für abnorme Rechtsbrecher aus gutem Grund, das darfst du mir glauben …“
„Davon rede ich ja gar nicht … ich verwehre mich nur gegen diese zunehmenden Entschuldungsversuche … als ob freier Wille und Eigenverantwortung gar nichts mehr zählten …“
„Es geht ja eher um zurechnungsfähig oder nicht … und bei einem Mord wirst du in beiden Fällen weggesperrt, einmal dahin, einmal dorthin …“
„Du redest von den strafrechtlichen Konsequenzen, ich von den moralischen“, beendete Jakob die Diskussion, da sein Pager läutete. „Willst du warten?“
„Nein“, erwiderte Schäfer, „vielleicht komme ich am Abend vorbei.“
„Wir haben heute Gäste …“
„Ja und? Bin ich das schwarze stinkende Schaf oder wie?“
„Du kannst gerne kommen, es ist nur …“
„War ja nur ein Scherz … ich rufe dich an.“
Als Schäfer vom Krankenhaus in Richtung Altstadt ging, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, Jakob nach Hofer zu fragen. Nur wegen dieser sinnlosen Diskussion um Schuld und Verantwortung, ärgerte er sich. Eine Diskussion, die er natürlich nicht zum ersten Mal geführt hatte. Das Verhältnis zwischen Polizei und Gutachtern hatte sich nicht zum Besseren gewendet mit den Fortschritten, die Psychologie und Psychiatrie in diesem Bereich gemacht hatten. Früher hatten vor Gericht zwingende Beweise und ein paar schlimme Tatortfotos gereicht, um einen Verbrecher verurteilen zu können – doch was in den Gerichtssälen der Vereinigten Staaten schon in der Aktentasche jedes gut bezahlten Anwalts steckte, würde in nicht so ferner Zukunft wahrscheinlich auch in Österreich zum Standardrepertoire der Verteidigung gehören: Gehirnstrommessungen, Magnetresonanz, Aufnahmen von Computertomografen, man steckte den Mörder mit ein paar Elektroden am Kopf in die Röhre, zeigte ihm eine Serie von Bildern und wenn bei einem Kindergeburtstag der falsche Bereich im Gehirn flimmerte oder sich beim Bild eines gefolterten Soldaten das Belohnungszentrum aktivierte, musste die Staatsanwaltschaft plötzlich gegen wissenschaftliche Beweise für einen neurologischen Defekt antreten, der die Aggression des Angeklagten, mangelnde Empathie, herabgesetzte Hemmschwelle und was sonst noch alles erklärte. Nicht dass Schäfer sich diesen Neuerungen grundsätzlich verschloss – aber wer mit ein paar futuristischen Röntgenbildern jemanden für unzurechnungsfähig erklären wollte, der sich Wochen oder Monate nicht hatte fassen lassen, der hatte bei einem Mordermittler keinen guten Stand. Wie auch immer: Kastor hatte kein Gutachter geholfen; er hatte sich selbst als überaus zurechnungsfähig erwiesen, als ihm sein Ausbruch gelang.
Schäfers Füße schmerzten vom vielen Gehen auf Asphalt, zudem war er verschwitzt. Er ging zurück in seine Pension, nahm eine Dusche und legte sich nackt aufs Bett. Kastors Akte sollte er sich ansehen, fiel ihm ein. Vielleicht konnte er dem gespenstischen Mosaik danach ein neues Steinchen hinzufügen. Er beugte sich zu seinem Nachtkästchen, nahm seinen Laptop und steckte das Netzkabel an. Murrend stand er wieder auf, da die DVD , die Schreyer gebrannt hatte, noch in seiner Tasche lag. Dann fuhr er den Computer hoch und legte die DVD ein. Klickte sich durch die zahlreichen Ordner und öffnete schließlich den Bericht eines Jugendpsychologen, dem Kastor 1982 zugewiesen worden war.
26.
Paul Kastor wird mir zugewiesen, nachdem er am 25.8.1982 gemeinsam mit einem Freund ein Fahrzeug entwendet und mit diesem ein jugendliches Paar angefahren hat, das hierbei schwer verletzt wird. Bei unserer ersten Sitzung gibt sich Paul verschlossen, reagiert sowohl auf allgemeine Fragen als auch auf solche bezüglich des Tathergangs mit stummer und unterdrückter Aggressivität, die sich in seiner Körpersprache und seinen Blicken ausdrückt. Auf die wiederholte Frage nach den Beweggründen für sein Handeln gibt er keine Antwort und wird schließlich so jähzornig, dass die Sitzung abgebrochen werden muss. Eine affektive Störung ist auch in Hinsicht auf andere weniger schwerwiegende
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