Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
Patienten mit einer Zigarette auf
den kleinen Balkon in die pralle Sonne zu setzen. Im Grunde mochte Anna die
Hitze, nur wurde sie träge davon. Wenn es nach ihr ginge, würde sie den ganzen
Tag im Schatten liegen, ein Buch lesen, sich hin und wieder kalt abduschen,
zwischendurch ein bißchen dösen, immer wieder, bis zum Abend. Statt dessen
empfing sie einen Patienten nach dem anderen und wartete seit dem Morgen
darauf, daß wenigstens einer seinen Besuch nicht mit Bemerkungen über die Hitze
einleitete. Ihre fachliche Qualifikation überprüfte sie mit Vorhersagen über
die Auswirkungen der hohen Temperaturen auf die labile Psyche ihrer Patienten:
Die Depressive würde die Hitze ganz sicher als Ausrede für ihre komplette
Handlungsunfähigkeit benutzen, der teamunfähige Abteilungsleiter mit
Potenzproblemen würde sehr, sehr gereizt sein und behaupten, daß ihm die Hitze
besonders auf die Gonaden schlage. Die dreifache Mutter würde glauben, daß sie
allein schuld am Wetter sei, wie sie auch schuld war an den schlechten Noten
ihrer Kinder, den ungebügelten Hemden ihres Mannes und dessen mangelndem
sexuellen Appetit.
Dante war natürlich nicht mit in die Wertung eingeflossen, da das
Treffen am Morgen seine erste Sitzung gewesen war und sie noch keine Aussagen
über ihn treffen konnte. Ansonsten hatte Anna den ganzen Tag richtiggelegen.
Aber was machte die Hitze mit ihr? War sie neben ihrer Trägheit nicht auch
unkonzentriert und überheblich? Anna ertappte sich mehrfach dabei, ihren
Patienten nicht richtig zuzuhören. Ein Blick auf die Krawatte des
Abteilungsleiters genügte, und sie ärgerte sich minutenlang über ihren Vater.
Obwohl der niemals Krawatte trug. Gott sei Dank hatte sie die heutigen
Sitzungen nun hinter sich.
Das Klingeln des Telefons riß Anna aus ihren Gedanken. Es war Pete,
der freudig berichtete, daß Yvonne ihm zwei Wohnungsbesichtigungen vermittelt
hatte.
»Hast du Lust mitzukommen? Ich weiß, für dich ist das vermutlich
wenig amüsant, aber du wärst mir eine große Hilfe. Hamburg ist mir total fremd,
und du könntest dafür sorgen, daß ich nicht in die Diaspora ziehe oder sonst
einen Fehler begehe«, bat Pete.
Anna spürte, wie sie sofort auf Distanz ging. »Wo sind die Wohnungen
denn?« fragte sie ausweichend zurück, um etwas Zeit zu gewinnen.
Pete raschelte mit einem Zettel: »Winterhude, Krochmannstraße die
eine, und die andere Eimsbüttel, Bismarckstraße.«
»Vergiß beide. Die Lage ist nicht gut. Obwohl …« Anna überlegte.
»Was ist denn damit? Yvonne sagte, die erste sei direkt am
Stadtpark, dort könnte ich morgens vor der Arbeit joggen, und die andere, also
Eimsbüttel, das sei sehr lebendig und nett.«
»Wenn dir Joggen wichtig ist«, erwiderte Anna, »zieh an den
Stadtpark. Grundsätzlich gibt es in Hamburg aber so eine Art Glaubenskrieg, wo
man zu wohnen hat. Rechts oder links der Alster. Ich gehöre zur
Links-Fraktion.«
»Und was spricht dann gegen die Bismarckstraße? Liegt die nicht
super?«
»Zu dicht bei mir«, meinte Anna kühl.
Kurzes Schweigen in der Leitung.
»Verstehe«, kam schließlich von Pete, »was hältst du davon: Ich sehe
mir den Kram alleine an und lade dich hinterher zum Essen ein. Schätze, wir
haben da was klarzustellen.«
Anna stimmte zu.
Sie betrat um Punkt neun das Luxor. Die Tische draußen
waren alle besetzt, Anna entdeckte Pete im hinteren Teil des Lokals.
»Du hättest draußen reservieren sollen«, sagte sie statt einer
Begrüßung.
Pete erhob sich und rückte ihr den Stuhl zurecht. »Guten Abend,
schön siehst du aus«, gab er zur Antwort. Anna hatte sich auffallend wenig
zurechtgemacht, trug alte, an den Knien aufgerissene Jeans, kein Make-up, und
die Haare hatte sie nachlässig hochgesteckt. Als sie sich wortlos hingesetzt
hatte, schob er nach, er habe sehr wohl versucht, draußen zu reservieren, aber
zu spät. Prüfend sah er sie an, während sie sich, immer noch schweigend, in die
Karte vertiefte. Sie bestellte Bier und Cesar’s Salad, er nahm das gleiche. Als
die Kellnerin weg war, lächelte Pete undurchdringlich.
»Ich habe die in der Bismarckstraße genommen. Ist bezugsfertig, ’ne
nette kleine Wohnung im Hinterhaus. In Zukunft werden wir uns wohl zufällig im
Supermarkt um die Ecke begegnen, wenn wir gleichzeitig nach einem Pfund Butter
greifen.«
Anna schwieg.
»Morgen habe ich frei, da werden die ersten Möbel angeschafft. Ich
kaufe ein Metallbett, mit Stangen am Kopfende. Und Handschellen habe ich von
Berufs
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