Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
Nase lief ein kleiner Rotzfaden.
Die Unterlippe bewegte sich, als ob er etwas sagte. Es war jedoch nichts zu
hören. Außer einem leisen, unaufhörlichen Wimmern. Die Kamera klebte genüßlich
an der Schockstarre im Gesicht des Kindes.
Es war der Junge, den die SOKO als bislang nicht
identifizierte Leiche Nummer zwei in den Akten hatte.
»Wollt ihr den Rest auch noch sehen?« fragte Daniel leise.
»Gibt es eine Chance, den Ort oder den Mann zu identifizieren?«
Christian sprach ebenso leise, als wolle er das wimmernde Kind in dem Film
nicht erschrecken.
Daniel schüttelte den Kopf: »Drei Männer. Es kommen noch zwei dazu.
Ich habe Eberhard und Volker eine Kopie des Films gemacht. Sie haben ihn schon
zig Mal angesehen in der Hoffnung, daß ihnen was auffällt. Jetzt ist ihnen
schlecht. Ich glaube, sie machen gerade Mittag an der Alster. Schätze, bei
einem Whisky. Ich jedenfalls könnte einen brauchen. Einen doppelten.«
Christian bat Daniel, den Film abzubrechen. Er ging zu dem
Waschbecken, das sich hinter einer Trennwand in seinem Büro befand, und
klatschte sich mehrere Ladungen kaltes Wasser ins Gesicht. Als er wieder
hervorkam, sah er genauso grau aus wie vorher.
»Okay, gehen wir an die Alster. Was trinken.«
Daniel und Pete nickten ihm zu.
»Wir haben noch was. Was Neues über Karl«, informierte Pete seinen
Boß.
Anna war genervt. Schon zum zweiten Mal hatte die
histrionische Patientin kurzfristig eine Sitzung abgesagt. Nun stand Anna eine
sehr lange Mittagspause bevor. Sie versuchte, ihre Mutter zu erreichen.
Vergeblich. Seit gestern morgen ging sie nicht ans Telefon. Anna war sicher,
daß sie zu Hause war, sie ging selten aus. Dem Impuls, ihren Vater anzurufen
und nachzuhaken, widerstand sie. Sie trank einen langen Zug aus der
Wasserflasche und entschied sich, joggen zu gehen, um die freie Zeit sinnvoll
zu nutzen. Und sich ihre hilflose Frustration aus den Zellen zu schwitzen. Sie
ging nach oben in ihr Schlafzimmer, schlüpfte aus ihrem leichten Leinenkleid
und zog ein Shirt und eine kurze Hose an. Als sie dabei war, die Laufschuhe zu
schnüren, vermeldete ein kaum hörbares Pling aus ihrem Büro die Ankunft einer
Mail auf ihrem Computer. Neugierig trabte sie wieder nach unten und warf einen
Blick auf die Nachricht:
»Sehr geehrte Frau Maybach, Sie fragen sich vermutlich
inzwischen, worum es mir eigentlich geht, da ich bislang noch nicht dazu
gekommen bin, Ihnen viel zu erzählen. Ich weiß es selbst nicht. Nur, in meinem
Kopf gehen Dinge vor sich, Dinge, die von irgendwoher kommen, die nicht zu mir
gehören, oder doch? Dinge, die ich weder sehen noch hören noch riechen noch
schmecken will. Können wir am Montag über die Sünde reden? Ich bin in einem, wie
man sagt, sehr gottesfürchtigen Haushalt aufgewachsen. Nein, das ist Ihnen
gewiß zu theologisch, und Sie werden mich wegschicken. Können wir also über
Schuld reden? – Auf meinem Haupt ist übergroß geworden die
Schuld / gleich einer schweren Bürde drückt sie mich nieder. – Gibt es
das Böse? Ist das Böse eine Interpretation? Eine Projektion? Was ist krank? – Denn meine Lenden sind voller Brand / an meinem Leib ist nichts
Gesundes. – Was ist heilbar? Wo hilft nur der Tod? – Wo
wäre ein Lebender, der nicht schaute den Tod / der den Fängen der Unterwelt
entzieht seine Seele? – Ihr Carlos Dante.«
Mit unwohlem Gefühl druckte Anna die Mail aus. Sie
markierte die Sätze mit den Schrägstrichen und glaubte sich zu erinnern, daß
diese Schreibweise typisch für die Bibel war.
Christian, Daniel und Pete leisteten sich ein Taxi und
fuhren zur Alster, um der trüben Stimmung in ihrer Einsatzzentrale wenigstens
über Mittag zu entkommen. Daniel entdeckte Eberhard und Volker am hintersten
Tisch auf dem Holzsteg, während er sich mit Christian und Pete durch die
Menschenmassen zwängte, die ihre Mittagspause unter freiem Himmel verbringen
wollten. Hier und heute zeigte sich Hamburg von seiner schönsten Seite. Ein
strahlend blauer Himmel, von dem die Sonne brannte, Segelboote, die auf der
Außenalster kreuzten und mit ihren leicht geblähten weißen Segeln zumindest
eine kleine Brise anzeigten, Ruderer von den umliegenden Clubs, die unter
rhythmischen Kommandos aus Begleitbooten mit perfekt koordinierten Schlägen für
die nächsten Wettkämpfe trainierten, schick gewandete Flaneure mit
Designersonnenbrillen und Rassehunden und attraktive Hanseatinnen, die sich
leicht bekleidet oder sogar oben ohne auf der Wiese rekelten und in
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