Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
hinaus. Karl wollte ihr etwas Bissiges
hinterherrufen, doch sein Handy klingelte. Er blickte aufs Display. Die
Rufnummer war unterdrückt. Als Karl den Anrufer, der seinen Namen nicht nannte,
an der Stimme erkannte, begann er sofort zu fluchen: »Verdammte Scheiße! Wie
oft habe ich dir gesagt, daß du mich unter der Nummer nicht …«
Karl wurde unterbrochen und hörte ein, zwei Minuten schweigend zu.
Dann sagte er ganz ruhig: »Ihr tut jetzt nichts. Ruft Ulli an. Und wartet, bis
ich komme. Ich bin in ein paar Stunden da.«
Karl legte auf. Sein Blick war düster und versprach nichts Gutes.
Kaum hatte sich Christian am Donnerstag mittag möglichst
gleichmütig seinen telefonischen Anpfiff vom Oberstaatsanwalt abgeholt, der
seinen Unmut darüber äußerte, daß er der Öffentlichkeit noch immer keine
Verhaftung verkünden konnte, kam Daniel mit seinem Laptop und Pete im
Schlepptau in Christians Büro gestürmt.
»Das mußt du dir ansehen, Chef«, meinte er angespannt, »schön ist
das nicht, eher voll zum Kotzen, aber es bestätigt deine Vermutung vom
Kinderhändlerring.«
Daniel baute seinen Laptop auf und fuhr ihn hoch.
»Wo sind die anderen?« wollte Christian wissen. Wenn Daniel auf
etwas gestoßen war, sollten es alle erfahren.
»Herd und Volker haben es schon gesehen. Während du mit dem
Generalissimus geflirtet hast. War’s nett?« fügte Daniel hämisch hinzu.
»Das übliche. Wenn wir unserem Oberboß nicht bald einen Kopf
liefern, will er sich von uns scheiden lassen.«
Daniel zuckte mit den Schultern und beschäftigte sich mit dem
Laptop. Pete zog sich einen Stuhl dicht neben Christian heran, so daß auch er
gut auf den Bildschirm sehen konnte.
»Ich habe den Film bei Tante Marie gefunden«, erklärte Daniel.
Seit sie mit dem Fall beschäftigt waren, nahm Daniel eine Art
Nachhilfeunterricht bei einer Frau namens Maria Großhans. Die knapp
sechzigjährige, dickliche Dame arbeitete für eine Hamburger Hilfsorganisation,
die mißbrauchte Kinder betreute und sich mit der Enttarnung sogenannter »guter
Onkels« beschäftigte. Dazu ging Tante Marie, wie Daniel sie wegen ihrer
mütterlichen Erscheinung nannte, täglich ins Netz, gab sich als kleines Mädchen
oder auch Junge aus und reagierte auf die Lockangebote Pädophiler, die in
Chat-Rooms mit ausgeklügelten Taktiken Kinder ansprachen. Daniel lernte von
Tante Marie, wie die Pädophilen ihre Newsgroups tarnten, wie sie sich
ausländischer Usenet-Anbieter bedienten, mit welchen Codes sie ihre Anzeigen
verschlüsselten, wie sie die Wechsel der Newsgroups über »Pinnwände«
austauschten und ihre Identitäten verschleierten. Gelegenheitstäter gingen
Tante Marie relativ häufig ins Netz, doch die Profis kannten die Vorgehensweise
ihrer Jäger. Sie paßten sich an und konfrontierten sie ständig mit einem
erheblichen Vorsprung in Sachen Tarnung. Daniel sah bei Tante Marie Bilder und
Filme, die er nie wieder aus seinem Gedächtnis würde bannen können. Seit er an
diesem Fall arbeitete, versuchte er die Dämonen, die sich in seinen
Hirnwindungen einnisten wollten, mit Alkohol zu bannen. Er wußte, er trank
mehr, als ihm zuträglich war. Aber manchmal ertrug er die Stille und Einsamkeit
der Nacht nicht, wenn sich die Bilder, die er tagsüber bei Tante Marie gesehen
hatte, hinter seine geschlossenen Augenlider schoben und ihm den Schlaf
raubten. Heute würden die anderen diese Bilder mit ihm teilen müssen. Er
startete einen Film auf seinem Laptop.
Das Zimmer war karg eingerichtet. Zwei große Matratzen
lagen auf dem Boden, bedeckt mit schmutziger, zerwühlter Wäsche. Neben dem
Lager stand ein runder Beistelltisch mit einem vollen Aschenbecher und drei
Gläsern, von denen eines eine braune Flüssigkeit enthielt. Durch das kleine
Dachfenster im rechten oberen Bildrand drang trübes Licht in den Raum. Man
hörte das leise Trommeln des Regens auf dem Dach. Ein kleiner Junge im
Unterhemd wurde von einem Mann an der Hand zum Matratzenlager geführt. Beide
waren nur von hinten zu sehen. Unten herum war der Junge nackt. Seine Knie
zitterten leicht. Der Mann ließ die Hand des Jungen los und befahl ihm, sich
hinzuknien. Der Junge tat wie geheißen. Von hinten sah man, wie der Mann sich
auszog. Er ging ebenfalls in die Knie und befummelte den Jungen. Dann befahl er
ihm, sich umzudrehen. Der Junge drehte sich um. Die Kamera zoomte an sein
Gesicht heran. Der Junge hatte die Augen weit aufgerissen und blickte starr ins
Nichts. Die Pupillen waren riesig. Aus seiner
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