Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
Fluchtimpuls.
»Dann kommen Sie doch mal vorbei. Meine Sprechzeiten stehen im
Telefonbuch!« erwiderte sie mit aufgesetzter Lockerheit, knuffte Pete
kumpelhaft und lief weiter. Langsam. Betont langsam. Am liebsten wäre sie
gesprintet, bis die Lunge platzt, um ihrem absurden inneren Aufruhr aus Freude
und Erschrecken Ausdruck zu verleihen. Um ihm zugleich jegliche Energie zu
entziehen, bevor er als Gedanke formuliert werden konnte und sich dadurch ein
Recht auf Existenz erstritt. Christian.
Die Männer sahen ihr hinterher.
»Guter Laufstil«, kommentierte Eberhard fachmännisch.
»Guter Hintern«, urteilte Daniel ebenfalls fachmännisch.
Alle sahen Pete erwartungsvoll an.
»Was ist denn los? Noch nie ’ne attraktive Frau in kurzen Hosen
gesehen, oder was?«
Daniel legte jovial den Arm um Pete und zog ihn an sich heran:
»Therapeutin, so so. Was therapiert sie denn bei dir, Pitt?«
Pete grinste: »Verspannungen aller Art.«
»Kennst du die schon länger?« Christian war es überraschend heftig
zuwider, sich an dem Männergeplänkel zu beteiligen, doch er wollte es wissen.
»Seit wann bin ich in Hamburg …«, Pete gab sich nachdenklich und
zählte an seinen Fingern ab, »… knapp ’ne Woche.«
Plötzlich war Christian wütend auf Pete. Weil der blitzschnell eine
so wunderschöne Frau in Hamburg aufgetan hatte. Weil er sich damit brüstete.
Und er war sauer auf Anna, als hätte er jedes Recht dazu. Weil sie sich von
diesem Sonnyboy, der das genaue Gegenteil von ihm selbst war, einfach so
aufreißen ließ. Denn daß zwischen den beiden etwas lief, das war sonnenklar.
Mißmutig trieb er seine Leute zur Eile an. Es gab andere Probleme zu
lösen.
Karl Detering sah sich noch einmal um. Kein Mensch in der
Nähe. Den Mietwagen hatte er etwas entfernt an der Landstraße geparkt. Langsam
lief er die Auffahrt zum Hof hinauf. Eine kleine Wegbiegung, und das Haus lag
in all seiner Häßlichkeit vor ihm. Vom Wind halb abgerissene Eternitplatten,
Plastikfenster, fett verfugte Glasbausteine und Waschbeton bezeugten den
völligen Mangel an Geschmack. Dabei war genug Geld da. Je näher er kam, desto
aggressiver stieg ihm der Gestank des Schweinestalls in die Nase. Als er auf
dem Geviert zwischen Wohnhaus und Ställen ankam, liefen ihm aufgeregte Hühner
zwischen die Füße. Genervt trat er nach einem, was die ganze Schar in Aufruhr
versetzte, so daß sie mit aufgeregtem Flattern ihrer nutzlosen Flügel das Weite
suchten. Der Boden war verkotet und matschig, offensichtlich hatte es in der
Nacht geregnet. Mit jedem Schritt, den Karl Detering angewidert auf das
Wohnhaus zuging, spürte er die Fassade des erfolgreichen, souveränen
Geschäftsmanns bröckeln. Er haßte diesen Ort hier aus tiefstem Herzen, und das
wenige, was überhaupt an Menschlichem in ihm war, versteinerte mit jedem Meter,
den er sich dem Haus näherte. Bis er vollkommen erkaltet war.
Er betrat das heruntergekommene Haus mit einem Schlüssel, den er aus
seiner Hosentasche zog. Der ekelhafte Geruch von kalter Kohlsuppe waberte durch
den Flur. Er rief nach Lilli. Sie gab keine Anwort. Karl ging ins obere
Stockwerk. Eine ausgemergelte Mittsechzigerin lag auf einem schon lange nicht
mehr frisch bezogenen Bett und schlief. Er weckte sie mit einem Tritt. Sie fuhr
erschrocken hoch und wollte protestieren, als sie sah, wer ihr den Tritt
verpaßt hatte. Sofort änderte sich ihr Gesichtsausdruck, sie lächelte und bemühte
sich, etwas Devotes auszustrahlen, um ihre lauernde Angst zu verbergen.
»Gott, ist das gut, daß du da bist«, seufzte sie.
»Laß Gott aus dem Spiel. Wo ist Paul?« schnauzte er.
Lilli sah auf die Uhr: »Der holt Uli, damit der uns hilft. Wie du
gesagt hast. Sie sind bestimmt gleich da. Soll ich Kaffee kochen? Oder willst
du zuerst …« Sie brach mit fragendem Blick ab.
»Wir warten auf Paul und Uli!« Karl Detering verließ den müffelnden
Schlafraum und setzte sich nach unten ins Wohnzimmer auf einen abgewetzten
Sessel aus den frühen Achtzigern. Geistesabwesend trommelte er mit den Fingern
auf die unechte Holzlehne. Kurz darauf wurde die Haustür aufgeschlossen, und
zwei Männer betraten das Haus. Paul war Ende Sechzig, wirkte sehr
grobschlächtig und ging gebückt, Uli war erheblich jünger und machte einen
nervösen Eindruck. Seine Augen und seine Hände waren ständig in Bewegung,
jedoch hielt er Karls Blick zeitweise besser stand als Paul. Die Männer
begrüßten sich knapp, während Lilli in der Küche hantierte. Kaum hatten
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