Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
von Betroffenheit oder
schlechtem Gewissen in der Stimme vermeldete ihr Vater, daß Evelyn längst in
ihrem Bett liege und schlafe. Er habe sie heute mittag von ihrem kleinen
»Ausflug« wieder nach Hause geholt. Ob er sie etwa wecken solle oder ihr etwas
ausrichten könne?
»Nein. Nichts«, erwiderte Anna leise und legte ohne ein weiteres
Wort auf. Sie registrierte Enttäuschung über ihre inkonsequente Mutter und
ärgerte sich darüber. Kraftlos ließ sie sich in ihr Kissen zurücksinken,
starrte mit leerem Blick an die Decke und fragte sich bitter, ob sie
tatsächlich geglaubt habe, ihre Mutter habe aus heiterem Himmel so etwas wie
Stolz entdeckt.
Zur gleichen Zeit schenkte sich Christian zu Hause einen
Whisky ein und versuchte, seine Ungeduld zu unterdrücken. Er wartete auf Karens
Anruf, hoffte auf einen kleinen Schritt nach vorne. Es trieb ihn schier zum
Wahnsinn, daß er noch immer nichts gegen Detering in der Hand hatte, obwohl er
felsenfest von dessen Schuld überzeugt war. Sobald er nur an ihn dachte, spürte
er, wie Adrenalin in ihm hochschoß, sich seine gesamte Muskulatur verkrampfte
und er das Bedürfnis verspürte, diesem schmierigen Kerl so weh zu tun, bis er nie
wieder imstande sein würde, sich an kleinen Kindern zu vergreifen. Christian
atmete tief durch, starrte zum Fenster hinaus auf die Straßenkreuzung und sagte
sich immer und immer wieder: Geduld ist die Tugend des Jägers, Geduld ist die
Tugend des Jägers.
Am Nachmittag war in der Nähe des Autobahnkreuzes Neuss Süd, bei
einem Kaff mit dem sinnigen Namen Gier, von einer kompletten Kindergruppe auf
Sonntagsausflug eine weitere Jungenleiche im Eingangsschacht eines alten
Grubenstollens gefunden worden. Die zuständige Polizeibehörde hatte versäumt,
Christian und seine SOKO sofort zu benachrichtigen, da sie vor Ort
Schwierigkeiten hatte, die Situation mit den etwa dreißig verstörten Kindern
und zwei hysterischen Erziehern in den Griff zu bekommen. Außerdem lag die
Leiche schon länger und begann zu verwesen. Erst als der tote Körper des Kindes
gegen Abend in der Gerichtsmedizin gelandet war, dachte einer der Beamten
daran, das Team aus Hamburg zu informieren, denn die Auffindesituation wies auf
eine erneute Tat des Bestatters hin. An die in weißes Leinen gewickelte,
gewaschene und mit Blumen hergerichtete Leiche war ein Briefumschlag mit einem
Psalm geheftet.
Der Fundort indes war inzwischen schon von den örtlichen Beamten
gesichert und untersucht worden, so daß Christian Abstand davon nahm, selbst
hinzufliegen und sich über die vermutlich von der Kindergruppe völlig
zertrampelten Spuren zu echauffieren. Nur Karen hatte sich sofort auf den Weg
gemacht, um bei der Obduktion dabeizusein, die ein Düsseldorfer Kollege noch in
der Nacht mit ihr zusammen vornehmen wollte.
Als Christians Telefon klingelte, schreckte er aus seinen düsteren
Gedanken. In Karens Stimme schwang trotz deutlicher Erschöpfung Triumph mit:
»Gute Neuigkeiten. Der Todeszeitpunkt des Kindes liegt vier bis fünf Tage
zurück. Da war, wenn ich mich recht erinnere, Detering in Düsseldorf. Und jetzt
kommt’s: Wir haben ein Haar! Ein ausgerissenes Haar, das definitiv nicht vom
Opfer stammt! Es ist schon unterwegs ins Labor.«
Christian konnte es nicht fassen. Sollte der Bestatter tatsächlich
nervös werden und Fehler machen?
»Wir brauchen Genmaterial von Detering zum Vergleich. Bei einem
ausgerissenen Haar kann die Übereinstimmung ganz schnell analysiert werden. Wir
extrahieren, und dann ab in den Sequenzer«, fuhr Karen aufgeregt fort, »und
vielleicht …«
»Ich veranlasse das gleich. Vielleicht geht er ja darauf ein. Was
ist mit dem Psalm?« unterbrach Christian, bevor Karen zu hoffnungsfroh wurde.
Er wollte fast nicht glauben, daß es so simpel sein könnte.
»Warte, ich lese ihn dir vor.«
Christian hörte, wie Karen jemanden um den sichergestellten Zettel
bat.
»Unser Bestatter wird immer mitteilsamer. Hör zu: Und als ich das
fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen derer, die
hingeschlachtet worden waren um des Wortes Gottes und des Zeugnisses willen,
das sie festhielten. Und sie schrieen mit lauter Stimme: ›Wie lange, Herr, du
Heiliger und Wahrhaftiger (soll es noch dauern), bis du Gericht hältst und
unser Blut rächst an den Bewohnern der Erde?‹ Da wurde einem jeden von ihnen
ein weißes Gewand gegeben, und es wurde ihnen gesagt, sie sollten sich noch
eine kurze Zeit gedulden, bis auch ihre Mitknechte vollzählig
Weitere Kostenlose Bücher