Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
Schreckliche erlebt hat und eine, die es
nicht erlebt hat. Oder auch zwei, drei oder vier.
Anna hielt es für durchaus möglich, daß Karl es geschafft hatte, den
Mißbrauch komplett auszublenden. Bis durch irgendein Ereignis in jüngerer Zeit
die Erinnerung daran wieder aufgeweckt worden war. Gerade bei sexueller Gewalt,
die sowohl physisch als auch psychisch einen extremen Übergriff darstellt,
setzen sich in den Sinneskanälen sogenannte multisensorielle Reize fest. Und
manchmal reicht, selbst Jahre später, ein kleiner Reiz aus, sei es eine
bestimmte Farbe, ein vertrauter Geruch, ein Lachen, ein Wort, um einen
»Flashback« hervorzurufen, und das Trauma überflutet in seinem ganzen Schrecken
das Bewußtsein des Betroffenen und reißt alle Barrieren und Gerüste, die sich
das Opfer sich zum psychischen Überleben aufgebaut hat, nieder.
Sie fragte sich, wie lange Karl wohl von seinem Vater mißbraucht
worden war. Und ob er der einzige war. Die feinen Damen und Herren, die bei
Detering offensichtlich ein und aus gingen, schienen eine andere Sprache zu
sprechen. Anna öffnete die Fensterscheibe einen Spalt weit und zündete sich
eine zweite Zigarette an. Sie fröstelte, obwohl es im Wagen keineswegs kalt
war.
Die Religiosität der Mutter war vermutlich eine verdrängende
Reaktion darauf, daß sie von dem Mißbrauch gewußt hatte. Sie fühlte sich
offenbar schuldig, besaß aber nicht die Kraft, etwas gegen ihren Mann zu
unternehmen.
Kein Wunder, daß Detering so aus der Haut gefahren war, als Volker
ihn auf seine Mutter ansprach. Für Kinder ist kaum zu ertragen, wenn nicht mal
die eigene Mutter hilft. Was sie damals zu dem kleinen Karl über den
verschmutzten Körper und die Reinheit der Seele gesagt hatte, ließe sich als
wahnwitzige Aufforderung verstehen, sich in sein Schicksal zu fügen und auf
eine besseres Jenseits zu hoffen.
Anna stand schmerzlich vor Augen, was sie die ganze Zeit diffus
gespürt hatte: Detering tötete die mißbrauchten Kinder, um ihre beschmutzten
Körper reinzuwaschen und sie auf die Unschuld ihrer Seelen zu reduzieren.
Deswegen die Waschungen, die Lilien, die Ästhetik der Begräbnisse. Anna begann
zu zittern, zuviel ging gleichzeitig in ihr vor. Sie wollte nach Hause,
Christian anrufen und sich bei ihm ausheulen. Aus Mitleid mit den ermordeten und
den mißbrauchten Kindern, mit dem kleinen Karl, aus Ekel vor seinen Eltern, aus
Wut auf die Petzolds und all die anderen Nachbarn, die nur aus ihren Löchern
gekommen waren, um die spektakulären Flammen eines Brandes zu bestaunen, das
stumme Leid eines Kindes aber nicht bemerken wollten. Sie verspürte Angst vor
der eigenen Hilflosigkeit einem Patienten wie Carlos gegenüber, Angst auch,
weil sie einen Kindermörder wie Carlos nicht mit aller Schärfe verurteilen
konnte. Der Geschmack der Zigarette verursachte ihr Übelkeit. Als sie in einer
Kurve einen Gang herunterschalten mußte, fiel ihr die Zigarette aus der Hand.
Vor Schreck trat sie auf die Bremse, geriet auf der verschmutzten Fahrbahn ins
Schleudern, der Wagen drehte sich kreischend um die eigene Achse und prallte
wenige, endlos lange Sekunden später gegen eine Pappel am Straßenrand.
Anna erwachte im Krankenhaus von Varel aus ihrer
Bewußtlosigkeit. Nach einigen Untersuchungen stand fest, daß sie Glück im
Unglück gehabt hatte. Eine mittelschwere Gehirnerschütterung, ein
Schleudertrauma, ein paar Prellungen und Abschürfungen, mehr war nicht
festzustellen. Ein später Pendler hatte den Unfall bemerkt, Krankenwagen und
Polizei gerufen. Ihr Saab war von der Polizei abtransportiert worden –
Totalschaden. Am liebsten hätte sie das Krankenhaus gleich wieder verlassen,
aber die Ärzte wollten sie über Nacht zur Beobachtung dabehalten, und weil sie
sich tatsächlich zu schwach fühlte, um zu dieser späten Stunde den Papierkram
zu erledigen, die Versicherung anzurufen, einen Mietwagen zu besorgen und die
restliche Reise nach Hamburg anzutreten, fügte sie sich in ihr Schicksal.
Mehrfach versuchte sie, ihre Mutter zu erreichen, doch niemand
meldete sich. Anna wollte vermeiden, daß ihre Mutter sich Sorgen machte, wenn
sie nicht wie angekündigt nach Hause kam, doch nun war sie es, die sich Sorgen
um ihre Mutter machte. Evelyns Handy war abgeschaltet, und schließlich wußte
Anna sich nicht mehr anders zu helfen, als ihren Vater anzurufen. Er ging
sofort ran. Anna verschwieg ihren Unfall, um Nachfragen aus dem Weg zu gehen.
Sie fragte lediglich nach ihrer Mutter. Ohne eine Spur
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