Der beste Tag meines Lebens
Revolutionär.
Noch revolutionärer als Dupins Methoden waren seine Motive. Geschichten über Helden, die Verbrechen rächen und Bösewichter ihrer gerechten Strafe zuführen, gibt es seit Jahrhunderten, doch dabei lag der Schwerpunkt des Interesses stets auf der Notwendigkeit von Rache, auf der Verteidigung der persönlichen oder der Familienehre oder auf der Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung. Dupin interessierte nichts von alledem.
Dupin handelte aus purer intellektueller Neugier. Dadurch, dass er ihn erfand, ebnete Poe den Weg für Holmes, Agatha Christies Hercule Poirot und die ganze Sparte der Gentlemen-Detektive. Dabei bewies er, wie man ganz ohne emotionale Voreingenommenheit oder Parteilichkeit zu einem bestimmten Ergebnis gelangt. Am eindrucksvollsten an dieser Neuerung ist allerdings nicht, wie rasch und mühelos Poe unsere Ansichten über Verbrechen und deren Bestrafung umdefinierte, sondern wie lange es dauerte, bis auch alle anderen auf diesen Zug aufsprangen.
Dupin ist inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten. Ich fragte mich, warum ich wie die meisten modernen Leser die Abenteuer von Sherlock Holmes bevorzugte. Das verstand ich erst, nachdem ich einen der Batman-Comics meines Bruders gelesen hatte. Mit seiner komplexen Psychologie, finsteren Obsessionen, fast übermenschlicher Energie und intellektuellen Talenten war Sherlock Holmes nicht irgendein Detektiv – er war der erste Superheld der Welt.
***
Colin roch das Hausinnere mehr, als dass er es sehen konnte. Kalter Rauch, Schimmelgestank und der schwache Ammoniakgeruch aus einem Katzenklo, das längst gereinigt gehörte, drangen aus der Dunkelheit nach draußen. »Is offen!«, bellte eine Männerstimme.
Colin trat ein, atmete vorsichtig durch den Mund und versuchte so zu tun, als würde nicht jedes Aroma, das sich in seinen Nasenlöchern fing, mikroskopisch kleine Dreckpartikel repräsentieren, die sein Körper gerade aufnahm. Nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erspähte er auf dem Sofa einen fast kahlköpfigen Mann mit dünnem Schnurrbart, der die Füße auf einen gläsernen Couchtisch gelegt hatte und an einer Bierdose nippte. Im Fernsehen erteilte gerade ein großer Mann mit ausgeprägtem texanischem Akzent einem Studiopublikum Ratschläge in Sachen Psychiatrie.
»Guten Tag, Mr. Connelly«, sagte Colin. Er versuchte, irgendetwas in dem Raum zu finden, das nicht ausgesprochen dreckig wirkte, und sich mit seinem Blick daran festzuhalten.
»Mr. Connelly? Das fehlte noch …« Die Stimme des Mannes verlor sich in einem phlegmatischen, schnaubenden Lachen. Das irritierte Colin. Seine Begrüßung war schließlich nicht als Witz gedacht gewesen.
»Ist Wayne zu Hause?«
Der fast schon kahlköpfige Mann setzte sich ein bisschen aufrechter hin und verengte die Augen bei der Erwähnung von Waynes Namen. Er musterte Colin MISSTRAUISCH . »Er soll ja mit keinem reden außer mit den Leuten von der Schule. Schickt dich die Schule?«
»Ich komme aus der Schule.« Colins Miene war absolut neutral. Das war weniger eine Lüge, sondern eher ein ökonomischer Umgang mit der Wahrheit. Es fiel ihm bedeutend leichter, als seine Mutter anzulügen.
Der Mann grunzte. »Wayne, beweg deinen Arsch hierher!«, bellte er über den Lärm des Fernsehers hinweg. »Jemand aus der Schule will dich sprechen!«
Irgendwo im hinteren Teil des Hauses ging eine Tür auf. Schwere Schritte auf dem Flur, die näher kamen. Unbewusst nahm Colin einen tiefen Atemzug, als Wayne ins Wohnzimmer geschlurft kam.
»Was zum Teufel redest du …«, begann Wayne den Mann mit den wenigen Haaren anzukeifen, was Colin als schockierend respektlosen Umgang mit dem eigenen Vater empfand. Doch Wayne beendete den Satz nicht, denn in diesem Moment erblickte er Colin.
»Du.«
»Hallo, Wayne«, sagte Colin. »Ich muss mit dir reden.«
»Draußen.« Wayne nickte in Richtung der Vordertür und band sich seine billigen, hohen Turnschuhe zu.
Der Glatzenmann wendete rasch den Kopf, ohne den Rest seines Körpers zu bewegen, und bemerkte, dass Wayne vorhatte hinauszugehen. Er runzelte die Stirn. »Hey!«, keifte er. »Die Cops haben gesagt, du musst im Haus bleiben.«
»Mir doch egal«, nuschelte Wayne und winkte Colin, ihm nach draußen zu folgen.
Der Mann auf dem Sofa wollte noch nicht aufgeben. Er deutete auf ein altes, an der Wand befestigtes Bakelit-Telefon. »Willst wohl, dass ich zum Telefon greif und sie anruf!«
»Ja, mach das mal, Ken«,
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