Der Besuch der alten Dame (German Edition)
ehrlich miteinander.
ILL Ich bitte darum.
DER BÜRGERMEISTER Von Mann zu Mann, wie Sie es verlangt haben. Sie besitzen nicht das moralische Recht, die Verhaftung der Dame zu verlangen, und auch als Bürgermeister kommen Sie nicht in Frage. Es tut mir leid, das sagen zu müssen.
ILL Offiziell?
DER BÜRGERMEISTER Im Auftrag der Parteien.
ILL Ich verstehe.
Er geht langsam links zum Fenster, kehrt dem Bürgermeister den Rücken zu, starrt hinaus.
DER BÜRGERMEISTER Daß wir den Vorschlag der Dame verurteilen, bedeutet nicht, daß wir die Verbrechen billigen, die zu diesem Vorschlag geführt haben. Für den Posten eines Bürgermeisters sind gewisse Forderungen sittlicher Natur zu stellen, die Sie nicht mehr erfüllen, das müssen Sie einsehen. Daß wir Ihnen im übrigen die gleiche Hochachtung und Freundschaft entgegenbringen wie zuvor, versteht sich von selbst.
Von links tragen Roby und Toby wieder Kränze, Blumen über die Bühne und verschwinden im ›Goldenen Apostel‹.
DER BÜRGERMEISTER Es ist besser, wir schweigen über das Ganze. Ich habe auch den ›Volksboten‹ gebeten, nichts über die Angelegenheit verlauten zu lassen.
ILL kehrt sich um Man schmückt schon meinen Sarg, Bürgermeister! Schweigen ist mir zu gefährlich.
DER BÜRGERMEISTER Aber wieso denn, lieber Ill? Sie sollten dankbar sein, daß wir über die üble Affäre den Mantel des Vergessens breiten.
ILL Wenn ich rede, habe ich noch eine Chance, davonzukommen.
DER BÜRGERMEISTER Das ist nun doch die Höhe! Wer soll Sie denn bedrohen?
ILL Einer von euch.
DER BÜRGERMEISTER erhebt sich Wen haben Sie im Verdacht? Nennen Sie mir den Namen, und ich untersuche den Fall. Unnachsichtlich.
ILL Jeden von euch.
DER BÜRGERMEISTER Gegen diese Verleumdung protestiere ich im Namen der Stadt feierlich.
ILL Keiner will mich töten, jeder hofft, daß es einer tun werde, und so wird es einmal einer tun.
DER BÜRGERMEISTER Sie sehen Gespenster.
ILL Ich sehe einen Plan an der Wand. Das neue Stadthaus? Er tippt auf den Plan.
DER BÜRGERMEISTER Mein Gott, planen wird man wohl noch dürfen.
ILL Ihr spekuliert schon mit meinem Tod!
DER BÜRGERMEISTER Lieber Mann, wenn ich als Politiker nicht mehr das Recht hätte, an eine bessere Zukunft zu glauben, ohne gleich an ein Verbrechen denken zu müssen, würde ich zurücktreten, da können Sie beruhigt sein.
ILL Ihr habt mich schon zum Tode verurteilt.
DER BÜRGERMEISTER Herr Ill!
ILL leise Der Plan beweist es! Beweist es!
CLAIRE ZACHANASSIAN Onassis kommt. Der Herzog und die Herzogin. Aga.
GATTE VIII Ali?
CLAIRE ZACHANASSIAN Der ganze Rivierakram.
GATTE VIII Journalisten?
CLAIRE ZACHANASSIAN Aus der ganzen Welt. Wo ich heirate, ist immer die Presse dabei. Sie braucht mich, und ich brauche sie. Sie öffnet einen weiteren Brief. Vom Grafen Holk.
GATTE VIII Hopsi, mußt du nun wirklich an unserem ersten gemeinsamen Morgenessen Briefe deiner ehemaligen Gatten lesen?
CLAIRE ZACHANASSIAN Ich will die Übersicht nicht verlieren.
GATTE VIII schmerzlich Ich habe doch auch Probleme. Er steht auf, starrt in das Städtchen hinunter.
CLAIRE ZACHANASSIAN Geht dein Porsche nicht?
GATTE VIII So ein Kleinstädtchen bedrückt mich. Nun gut, die Linde rauscht, Vögel singen, der Brunnen plätschert, aber das taten sie schon vor einer halben Stunde. Es ist auch gar nichts los, weder mit der Natur noch mit den Bewohnern, alles tiefer, sorgloser Friede, Sattheit, Gemütlichkeit. Keine Größe, keine Tragik. Es fehlt die sittliche Bestimmung einer großen Zeit.
Von links kommt der Pfarrer, ein Gewehr umgehängt. Er breitet über den Tisch, an dem vorher der Polizist saß, ein weißes Tuch mit einem schwarzen Kreuz, lehnt das Gewehr gegen die Wand des Hotels. Der Sigrist hilft ihm in den Talar. Dunkelheit.
DER PFARRER Treten Sie ein, Ill, in die Sakristei.
Ill kommt von links.
DER PFARRER Es ist dunkel hier, doch kühl.
ILL Ich will nicht stören, Herr Pfarrer.
DER PFARRER Das Gotteshaus steht jedem offen. Er bemerkt den Blick Ills, der auf das Gewehr fällt. Wundern Sie sich über die Waffe nicht. Der schwarze Panther der Frau Zachanassian schleicht herum. Eben hier im Dachgestühl, dann im Konradsweilerwald und jetzt in der Peterschen Scheune.
ILL Ich suche Hilfe.
DER PFARRER Wovor?
ILL Ich fürchte mich.
DER PFARRER Fürchten? Wen?
ILL Die Menschen.
DER PFARRER Daß die Menschen Sie töten, Ill?
ILL Sie jagen mich wie ein wildes Tier.
DER PFARRER Man soll nicht die Menschen fürchten,
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