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Der Besuch der alten Dame

Der Besuch der alten Dame

Titel: Der Besuch der alten Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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und Fräcken, zwei Chöre bildend, denen der griechischen Tragödien angenähert, nicht zufällig, sondern als Standortsbestimmung, als gäbe ein havariertes Schiff, weit abgetrieben, die letzten Signale.

    CHOR I Ungeheuer ist viel
    Gewaltige Erdbeben
    Feuerspeiende Berge, Fluten des Meeres
    Kriege auch, Panzer durch Kornfelder rasselnd
    Der sonnenhafte Pilz der Atombombe.
    CHOR II Doch nichts ist ungeheurer als die Armut
    Die nämlich kennt kein Abenteuer
    Trostlos umfängt sie das Menschengeschlecht Reiht
    Öde Tage an öden Tag.
    DIE FRAUEN Hilflos sehen die Mütter
    Liebes, Dahinsiechendes.
    DIE MÄNNER Der Mann aber
    Sinnt Empörung
    Denkt Verrat.
    DER ERSTE In schlechten Schuhen geht er dahin
    DER DRITTE Stinkendes Kraut zwischen den Lippen
    CHOR I Denn die Arbeitsplätze, die brotbringenden einst
    Sind leer
    CHOR II Und die sausenden Züge meiden den Ort.
    ALLE Wohl uns
    FRAU ILL Denen ein freundlich Geschick
    ALLE Dies alles wandte.
    DIE FRAUEN Ziemende Kleidung umschließt den zierlichen Leib nun
    DER SOHN Es steuert der Bursch den sportlichen Wagen
    DIE MÄNNER Die Limousine der Kaufmann
    DIE TOCHTER Das Mädchen jagt nach dem Ball auf roter Fläche
    DER ARZT Im neuen, grüngekachelten Operationssaal operiert freudig der Arzt
    ALLE Das Abendessen
    Dampft im Haus. Zufrieden
    Wohlbeschuht

    51
    Schmaucht ein jeglicher besseres Kraut.
    DER LEHRER Lernbegierig lernen die Lernbegierigen.
    DER ZWEITE Schätze auf Schätze türmt der emsige Industrielle
    ALLE Rembrandt auf Rubens
    DER MALER Die Kunst ernähret den Künstler vollauf.
    DER PFARRER Es berstet an Weihnachten, Ostern und Pfingsten
    Vom Andrang der Christen das Münster
    ALLE Und die Züge,
    Die blitzenden, hehren
    Eilend auf eisernen Gleisen
    Von Nachbarstadt zu Nachbarstadt, völkerverbindend
    Halten wieder.
    Von links kommt der Kondukteur.

    DER KONDUKTEUR Güllen.
    DER BAHNHOFSVORSTAND D-Zug Güllen-Rom, einsteigen bitte! Salonwagen vorne!
    Aus dem Hintergrund kommt Claire Zachanassian in ihrer Sänfte, unbeweglich, ein altes Götzenbild aus Stein, zwischen den beiden Chören hervor, von ihrem Gefolge begleitet.

    DER BÜRGERMEISTER Es ziehet
    ALLE Die reich uns beschenkte
    DIE TOCHTER Die Wohltäterin
    ALLE Mit ihrem edlen Gefolge davon!
    Claire Zachanassian verschwindet rechts außen, zuletzt tragen die Dienstmänner den Sarg auf einem langen Weg hinaus.

    DER BÜRGERMEISTER Sie lebe denn wohl.
    ALLE Teures führt sie mit sich, ihr Anvertrautes.
    DER BAHNHOFSVORSTAND Abfahrt!
    ALLE Es bewahre uns aber
    DER PFARRER Ein Gott
    ALLE In stampfender, rollender Zeit
    DER BÜRGERMEISTER Den Wohlstand
    ALLE Bewahre die heiligen Güter uns, bewahre den Frieden
    Bewahre die Freiheit. Nacht bleibe fern
    Verdunkele nimmermehr unsere Stadt
    Die neuerstandene prächtige
    Damit wir das Glück glücklich genießen.

    52

    Anhang

    Randnotizen, alphabetisch geordnet

    Angst
    Hier keine metaphysische Größe, sondern eine meßbare. Klebt an den Gegenständen. Dürrenmatt (siehe dort) faßt sie daher nicht so tief auf wie die Existentialisten. Er nichtet nicht, wird aber öfters von Kritikern (siehe dort) vernichtet. Das Nichts tritt als Goldzahn auf (siehe Polizist).
    Anspielung
    Auf die gegenwärtige Welt wird nicht angespielt, wohl aber spielt die gegenwärtige Zeit auf.
    Autor
    schrieb als Mitschuldiger.
    Beisenbach
    Ort zwischen Brunnhübel und Leuthenau.
    Berstet
    erhöht die Feierlichkeit von »birst«.
    Börsianer
    Tägliche Schnellzugverbindung zwischen Hamburg und Zürich.
    Chor
    (am Schluß): »Standortsbestimmung, als gäbe ein havariertes Schiff seine letzten Signale.« Vom Publikum mit einer gewissen Trauer anzuhören.
    Dürrenmatt
    Friedrich, geb. 5. Januar 1921. Lebt in Neuchatel (siehe Angst, Autor, Kritiker).
    Einfälle
    »So höre ich immer wieder, ich sei der Mann der maßlosen Einfälle, der gleichsam ohne Zucht und Disziplin daherschreibe. Was ist nun aber ein Einfall? Darüber zerbrechen sich manche den Kopf. Begreiflicherweise. Für sie entsteht Literatur aus der Literatur, Theater aus Theater ... Meine Kunst dagegen entsteht nicht primär aus der Kunst - ohne den Einfluß, den auch auf mich andere Schriftsteller haben, leugnen zu wollen - sondern aus der Welt, aus dem Erlebnis, aus der
    Auseinandersetzung mit der Welt, und genau dort, wo die Welt in Kunst gleichsam überspringt, steht der Einfall: Weil die Welt mit ihren Ereignissen in mich einfällt (wie ein Feind oft in eine Festung), entsteht eine Gegenwelt, eine Eigenwelt als eine

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