Der Besuch der alten Dame
und Fräcken, zwei Chöre bildend, denen der griechischen Tragödien angenähert, nicht zufällig, sondern als Standortsbestimmung, als gäbe ein havariertes Schiff, weit abgetrieben, die letzten Signale.
CHOR I Ungeheuer ist viel
Gewaltige Erdbeben
Feuerspeiende Berge, Fluten des Meeres
Kriege auch, Panzer durch Kornfelder rasselnd
Der sonnenhafte Pilz der Atombombe.
CHOR II Doch nichts ist ungeheurer als die Armut
Die nämlich kennt kein Abenteuer
Trostlos umfängt sie das Menschengeschlecht Reiht
Öde Tage an öden Tag.
DIE FRAUEN Hilflos sehen die Mütter
Liebes, Dahinsiechendes.
DIE MÄNNER Der Mann aber
Sinnt Empörung
Denkt Verrat.
DER ERSTE In schlechten Schuhen geht er dahin
DER DRITTE Stinkendes Kraut zwischen den Lippen
CHOR I Denn die Arbeitsplätze, die brotbringenden einst
Sind leer
CHOR II Und die sausenden Züge meiden den Ort.
ALLE Wohl uns
FRAU ILL Denen ein freundlich Geschick
ALLE Dies alles wandte.
DIE FRAUEN Ziemende Kleidung umschließt den zierlichen Leib nun
DER SOHN Es steuert der Bursch den sportlichen Wagen
DIE MÄNNER Die Limousine der Kaufmann
DIE TOCHTER Das Mädchen jagt nach dem Ball auf roter Fläche
DER ARZT Im neuen, grüngekachelten Operationssaal operiert freudig der Arzt
ALLE Das Abendessen
Dampft im Haus. Zufrieden
Wohlbeschuht
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Schmaucht ein jeglicher besseres Kraut.
DER LEHRER Lernbegierig lernen die Lernbegierigen.
DER ZWEITE Schätze auf Schätze türmt der emsige Industrielle
ALLE Rembrandt auf Rubens
DER MALER Die Kunst ernähret den Künstler vollauf.
DER PFARRER Es berstet an Weihnachten, Ostern und Pfingsten
Vom Andrang der Christen das Münster
ALLE Und die Züge,
Die blitzenden, hehren
Eilend auf eisernen Gleisen
Von Nachbarstadt zu Nachbarstadt, völkerverbindend
Halten wieder.
Von links kommt der Kondukteur.
DER KONDUKTEUR Güllen.
DER BAHNHOFSVORSTAND D-Zug Güllen-Rom, einsteigen bitte! Salonwagen vorne!
Aus dem Hintergrund kommt Claire Zachanassian in ihrer Sänfte, unbeweglich, ein altes Götzenbild aus Stein, zwischen den beiden Chören hervor, von ihrem Gefolge begleitet.
DER BÜRGERMEISTER Es ziehet
ALLE Die reich uns beschenkte
DIE TOCHTER Die Wohltäterin
ALLE Mit ihrem edlen Gefolge davon!
Claire Zachanassian verschwindet rechts außen, zuletzt tragen die Dienstmänner den Sarg auf einem langen Weg hinaus.
DER BÜRGERMEISTER Sie lebe denn wohl.
ALLE Teures führt sie mit sich, ihr Anvertrautes.
DER BAHNHOFSVORSTAND Abfahrt!
ALLE Es bewahre uns aber
DER PFARRER Ein Gott
ALLE In stampfender, rollender Zeit
DER BÜRGERMEISTER Den Wohlstand
ALLE Bewahre die heiligen Güter uns, bewahre den Frieden
Bewahre die Freiheit. Nacht bleibe fern
Verdunkele nimmermehr unsere Stadt
Die neuerstandene prächtige
Damit wir das Glück glücklich genießen.
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Anhang
Randnotizen, alphabetisch geordnet
Angst
Hier keine metaphysische Größe, sondern eine meßbare. Klebt an den Gegenständen. Dürrenmatt (siehe dort) faßt sie daher nicht so tief auf wie die Existentialisten. Er nichtet nicht, wird aber öfters von Kritikern (siehe dort) vernichtet. Das Nichts tritt als Goldzahn auf (siehe Polizist).
Anspielung
Auf die gegenwärtige Welt wird nicht angespielt, wohl aber spielt die gegenwärtige Zeit auf.
Autor
schrieb als Mitschuldiger.
Beisenbach
Ort zwischen Brunnhübel und Leuthenau.
Berstet
erhöht die Feierlichkeit von »birst«.
Börsianer
Tägliche Schnellzugverbindung zwischen Hamburg und Zürich.
Chor
(am Schluß): »Standortsbestimmung, als gäbe ein havariertes Schiff seine letzten Signale.« Vom Publikum mit einer gewissen Trauer anzuhören.
Dürrenmatt
Friedrich, geb. 5. Januar 1921. Lebt in Neuchatel (siehe Angst, Autor, Kritiker).
Einfälle
»So höre ich immer wieder, ich sei der Mann der maßlosen Einfälle, der gleichsam ohne Zucht und Disziplin daherschreibe. Was ist nun aber ein Einfall? Darüber zerbrechen sich manche den Kopf. Begreiflicherweise. Für sie entsteht Literatur aus der Literatur, Theater aus Theater ... Meine Kunst dagegen entsteht nicht primär aus der Kunst - ohne den Einfluß, den auch auf mich andere Schriftsteller haben, leugnen zu wollen - sondern aus der Welt, aus dem Erlebnis, aus der
Auseinandersetzung mit der Welt, und genau dort, wo die Welt in Kunst gleichsam überspringt, steht der Einfall: Weil die Welt mit ihren Ereignissen in mich einfällt (wie ein Feind oft in eine Festung), entsteht eine Gegenwelt, eine Eigenwelt als eine
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