Der Besuch der alten Dame
Material verlockt mich. Der Schauspieler braucht nur wenig, einen Menschen darzustellen, nur die äußerste Haut, Text eben, der freilich stimmen muß. Ich meine: So wie sich ein Organismus abschließt, indem er eine Haut bildet, ein Äußerstes, schließt sich ein Theaterstück durch die Sprache ab. Der Theaterschriftsteller gibt nur sie. Die Sprache ist sein Resultat. Darum kann man auch nicht an der Sprache an sich arbeiten, sondern nur an dem, was Sprache macht, am Gedanken, an der Handlung etwa; an der Sprache an sich, am Stil an sich arbeiten nur Dilettanten. Die Aufgabe des Schauspielers besteht darin, glaube ich, dieses Resultat aufs neue zu erzielen; was Kunst ist, muß nun als Natur erscheinen. Man spiele den Vordergrund richtig, den ich gebe, der Hintergrund wird sich von selber einstellen.
Ich zähle mich nicht zur heutigen Avantgarde, gewiß, auch ich habe eine Kunsttheorie, was macht einem nicht alles Spaß, doch halte ich sie als meine private Meinung zurück (ich müßte mich sonst gar nach ihr richten) und gelte lieber als ein etwas verwirrter Naturbursche mit mangelndem Formwillen. Man inszeniere mich auf die Richtung von Volksstücken hin, behandle mich als eine Art bewußten Nestroy, und man wird am weitesten kommen. Man bleibe bei meinen Einfällen und lasse den Tiefsinn fahren, achte auf eine pausenlose Verwandlung ohne Vorhang, spiele auch die Autoszene einfach, am besten mit vier Stühlen. (Diese Szene hat nichts mit Wilder zu tun - wieso? Dialektische Übung für Kritiker.)
Claire Zachanassian stellt weder die Gerechtigkeit dar noch den Marshallplan oder gar die Apokalypse, sie sei nur das, was sie ist, die reichste Frau der Welt, durch ihr Vermögen in der Lage, wie eine Heldin der griechischen Tragödie zu handeln, absolut, grausam, wie Medea etwa. Sie kann es sich leisten. Die Dame hat Humor, das ist nicht zu übersehen, da sie Distanz zu den Menschen besitzt als zu einer käuflichen Ware, Distanz auch zu sich selber, eine seltsame Grazie ferner, einen bösartigen Charme. Doch, da sie sich außerhalb der menschlichen Ordnung bewegt, ist sie etwas Unabänderliches, Starres geworden, ohne Entwicklung mehr, es sei denn die, zu versteinern, ein Götzenbild zu werden. Sie ist eine dichterische Erscheinung, auch ihr Gefolge, sogar die Eunuchen, die nicht realistisch unappetitlich mit Kastraten-Stimmen wiederzugeben sind, sondern unwirklich, märchenhaft, leise, gespensterhaft in ihrem pflanzenhaften Glück, Opfer einer totalen Rache, die logisch ist wie die Gesetzbücher der Urzeit. (Um die Rollen zu erleichtern, können die beiden auch abwechslungsweise reden, statt zusammen, dann aber ohne Wiederholung der Sätze.)
Ist Claire Zachanassian unbewegt, eine Heldin, von Anfang an, wird ihr alter Geliebter erst zum Helden. Ein verschmierter Krämer, fällt er ihr zu Beginn ahnungslos zum Opfer; schuldig ist er der Meinung, das Leben hätte 54
von selber alle Schuld getilgt; ein gedankenloses Mannsbild, ein einfacher Mann, dem langsam etwas aufgeht, durch Furcht, durch Entsetzen, etwas höchst Persönliches; an sich erlebt er die Gerechtigkeit, weil er seine Schuld erkennt, er wird groß durch sein Sterben (sein Tod ermangle nicht einer gewissen Monumentalität). Sein Tod ist sinnvoll und sinnlos zugleich. Sinnvoll allein wäre er im mythischen Reich einer antiken Polis, nun spielt sich die Geschichte in Güllen ab. In der Gegenwart.
Zu den Helden treten die Güllener, Menschen wie wir alle. Sie sind nicht böse zu zeichnen, durchaus nicht; zuerst entschlossen, das Angebot abzulehnen, machen sie nun Schulden, doch nicht im Vorsatz, Ill zu töten, sondern aus Leichtsinn, aus einem Gefühl heraus, es lasse sich alles schon arrangieren. So ist der zweite Akt zu inszenieren. Auch die Bahnhofszene. Die Furcht ist bei Ill allein, der seine Lage begreift, noch fällt kein böses Wort, erst die Szene in der Peterśchen Scheune bringt die Wendung. Das Verhängnis ist nicht mehr zu umgehen.
Von nun an bereiten sich die Güllener allmählich auf die Ermordung vor, entrüsten sich über Ills Schuld usw. Nur die Familie redet sich bis zum Schlusse ein, es komme noch alles gut, auch sie ist nicht böse, nur schwach wie alle.
Es ist eine Gemeinde, die langsam der Versuchung nachgibt, wie der Lehrer, doch dieses Nachgeben muß begreiflich sein. Die Versuchung ist zu groß, die Armut zu bitter. Die Alte Dame ist ein böses Stück, doch gerade deshalb darf es nicht böse, sondern muß aufs humanste
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