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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H.G. Wells
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interessant.“ Der Vikar berichtete ihm, daß er mit der Flinte hinausgegangen war.
    „Nach dem Essen, haben Sie gesagt, nicht?“ unterbrach der Doktor.
    „Unmittelbar danach“, sagte der Vikar.
    „So etwas sollten Sie nicht tun, wissen Sie.
    Aber erzählen Sie bitte weiter.“
    Er kam zu dem Punkt, wo er den Engel vom Tor aus erblickt hatte.
    „Im blendend hellen Licht“, sagte der Doktor dazwischen. „Bei neunundzwanzig Grad im Schatten.“
    Als der Vikar geendet hatte, preßte der Doktor seine Lippen fester zusammen als je zuvor, lächelte schwach und blickte bedeutungsvoll in die Augen des Vikars.
    „Sie glauben nicht ...“, begann der Vikar mit stockender Stimme.
    Der Doktor schüttelte den Kopf. „Verzeihen Sie mir“, sagte er und legte die Hand auf den Arm des Vikars.
    „Sie sind“, sagte er, „nach einem warmen Essen und an einem heißen Nachmittag hinausgegangen. Es hatte wahrscheinlich über dreißig Grad. Ihr Verstand, was davon übrig ist, ist ganz durcheinander vor lauter Gedanken an Vögel. Ich sage, was davon übrig ist, weil der größte Teil Ihrer Nerventätigkeit sich auf da unten konzentriert und das Essen verdaut. Ein Mann, der im Farnkraut gelegen hat, steht auf, und Sie schießen drauflos. Er fällt vornüber – und wie es eben so vorkommt –
    sind seine vorderen Gliedmaßen verdoppelt, ein Paar davon ist Flügeln nicht unähnlich. Es ist sicherlich ein Zufall. Und was die schillernden Farben und das weitere betrifft – haben Sie noch nie an einem prächtigen, sonnenbeschienenen Tag Farbflecke vor Ihren Augen tanzen gesehen? Sind Sie sicher, daß sie auf die Flügel beschränkt waren? Überlegen Sie einmal.“

    „Aber wie er behauptet, ist er ein Engel!“ sagte der Vikar, aus seinen kleinen, runden Augen starrend, die prallen Hände in die Taschen gezwängt.
    ,,Ah!“ sagte der Doktor, die Augen auf den Vikar gerichtet. „So etwas habe ich erwartet.“ Er hielt inne.
    „Aber glauben Sie nicht ...“, begann der Vikar.
    „Dieser Mann“, sagte der Doktor mit tiefer, ernster Stimme, „ist ein genialer Narr“.
    „Ist was?“ sagte der Vikar.
    „Ein genialer Narr. Ein abnormaler Mensch.
    Haben Sie die verweichlichte Zartheit seines Gesichtes bemerkt? Seine Neigung zu völlig sinnlosem Lachen? Sein vernachlässigtes Haar? Bedenken Sie weiters sein eigenartiges Gewand ...“
    Die Hand des Vikars glitt zum Kinn hinauf.
    „Symptome von Geistesschwäche“, sagte der Doktor. „Dieser Degenerationstypus zeigt häufig die Neigung, sich mit einem ungeheuer geheimnisvollen Nimbus zu umgeben, um glaubwürdig zu erscheinen. Der eine nennt sich Prinz von Wales, ein anderer Erzengel Gabriel, ein dritter ist gar die Gottheit selbst. Ibsen glaubt, er sei ein großer Lehrer, und Maeterlinck hält sich für einen neuen Shakespeare. Ich habe eben erst alles darüber gelesen
    – in Nordau. Ohne Zweifel brachte ihn seine seltsame Mißgestalt auf eine Idee ...“
    „Aber wirklich ...“, begann der Vikar.
    „Zweifellos ist er aus einer Anstalt entwischt.“
    „Ich akzeptiere das ganz und gar nicht ...“
    „Das werden Sie schon noch. Wenn nicht, gibt es die Polizei, und wenn das fehlschlägt, Zeitungsanzeigen; aber es könnte natürlich sein, daß seine Angehörigen es vertuschen möchten. Für eine Familie ist das eine traurige Sache ...“
    „Er scheint alles in allem ...“
    „Wahrscheinlich werden Sie in etwa einem Tag von seinen Freunden hören“, sagte der Doktor und tastete nach seiner Uhr. „Ich nehme an, daß er nicht sehr weit von hier entfernt lebt. Er scheint recht harmlos zu sein. Ich muß morgen noch einmal vorbeikommen und diesen Flügel ansehen.“ Er glitt vom Tisch herunter und machte sich zum Gehen bereit.
    „Dieses Altweibergeschwätz übt noch immer Einfluß auf dich aus“, sagte er, und schlug dem Vikar auf die Schulter. „Aber ein Engel, weißt du ... Ha, ha!“
    „Ich war fest davon überzeugt ...“, sagte der Vikar zweifelnd.

    „Prüfen Sie das Beweismaterial“, sagte der Doktor, immer noch die Hand an der Uhr.
    „Prüfen Sie das Beweismaterial mit Hilfe unserer präzisen Methode. Was bleibt dann übrig?
    Farbflecke, Flecke der Einbildungskraft – muscae volantes.“
    „Und dennoch“, sagte der Vikar, „ich könnte beinahe die Pracht seiner Flügel beschwören ...“
    „Denken Sie darüber nach“, sagte der Doktor, die Uhr in der Hand, „heißer Nachmittag –
    strahlender Sonnenschein – brennt auf Ihren Kopf herunter ... Aber ich muß

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