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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H.G. Wells
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Arbeit“, sagte er. „Ich glaube, ich werde ihn so lassen. Eine merkwürdige Mißbildung ist das! Finden Sie sie nicht störend, Mr. Engel?“
    Er ging plötzlich um ihn herum, so daß er in das Gesicht des Engels blicken konnte.
    Der Engel dachte, er meine die Verletzung.
    „Es ist ziemlich störend“, sagte er.
    „Wären nicht die Knochen, würde ich vorschlagen, es abends und morgens mit Jod zu bestreichen. Es gibt nichtes Besseres als Jod.
    Sie könnten ihr Gesicht damit dünn bestreichen. Aber die Knochenauswüchse, die Gliedmaßen verkomplizieren die Sache. Ich könnte sie natürlich absägen. Aber so etwas sollte man nicht übereilen ...“
    „Meinst du meine Flügel?“ sagte der Engel beunruhigt.
    „Flügel!“ sagte der Doktor. „Wie? Flügel nennen Sie das! Ja – was sollte ich sonst meinen?“
    „Sie absägen!“ sagte der Engel.
    „Glauben Sie nicht? Es ist natürlich Ihre Sache. Ich gebe nur einen Rat ...“
    „Sie absägen! Was für ein komisches Geschöpf du bist!“ sagte der Engel und begann zu lachen.

    „Wie Sie wollen“, sagte der Arzt. Er verabscheute Leute, die lachten. „Die Dinger sind merkwürdig“, sagte er und wandte sich dem Vikar zu. „Wenn störend“ – zum Engel. „Ich habe nie von so vollständiger Verdoppelung gehört – wenigstens bei Tieren. Gewiß, bei Pflanzen ist es normal. Waren Sie der einzige in der Familie?“ Er wartete nicht auf die Antwort. „Fälle von teilweisen Gliedmaßenspaltungen sind natürlich nicht ungewöhnlich, Vikar – Kinder mit sechs Fingern, Kälber mit sechs Beinen, und Katzen mit Doppelzehen, verstehen Sie. Kann ich Ihnen helfen?“ sagte er und drehte sich zu dem Engel, der mit dem Rock kämpfte. „Aber eine so vollständige Verdoppelung, und auch so flügelähnlich! Es wäre viel weniger bemerkenswert, wenn es einfach ein weiteres Paar Arme wäre.“
    Der Rock war angezogen, und er und der Engel starrten einander an.
    „Wirklich“, sagte der Doktor, „man fängt an zu begreifen, wie dieser herrliche Mythos von den Engeln entstand. Sie sehen etwas hektisch aus, Mr. Engel – fiebrig. Übermäßiger Glanz ist beinahe ein schlimmeres Symptom als übermäßige Blässe. Merkwürdig, daß Ihr Name Engel ist. Ich muß Ihnen eine erfrischende Arznei schicken, für den Fall, daß Sie in der Nacht Durst bekommen ...“
    Er machte sich eine Notiz auf seiner Manschette. Der Engel beobachtete ihn nachdenklich, den Anflug eines Lächelns in den Augen.
    „Einen Augenblick, Crump“, sagte der Vikar, nahm den Doktor beim Arm und führte ihn zur Tür.
    Das Lächeln des Engels wurde strahlender.
    Er blickte an seinen schwarz bekleideten Beinen hinunter. „Er denkt tatsächlich, daß ich ein Mensch bin!“ sagte der Engel. „Was er aus meinen Flügeln macht, verblüfft mich ganz und gar. Welch seltsames Geschöpf er sein muß! Das ist wirklich ein äußerst außergewöhnlicher Traum!“ 14
    „Das ist ein Engel“, flüsterte der Vikar. „Sie verstehen nicht.“
    „Was?“ sagte der Doktor mit schneller, scharfer Stimme. Seine Augenbrauen hoben sich, und er lächelte.
    „Aber die Flügel?“
    „Ganz natürlich, ganz ... wenn auch ein wenig abnorm.“
    „Sind Sie sicher, daß sie natürlich sind?“
    „Lieber Freund, alles, was existiert, ist natürlich. Es gibt nichts Unnatürliches in der Welt.
    Wäre ich anderer Überzeugung, würde ich die Praxis aufgeben und in La Grande Chartreuse eintreten. Natürlich gibt es Abnormitäten. Und
    ...“
    „Aber die Umstände, in denen ich auf ihn gestoßen bin“, sagte der Vikar.
    „Ja, erzählen Sie mir, wo Sie ihn aufgelesen haben“, sagte der Doktor. Er setzte sich auf dem Tisch im Flur nieder.
    Der Vikar begann eher zögernd – das Geschichtenerzählen war nicht gerade seine Stärke – mit den Gerüchten von dem seltsamen großen Vogel. Er erzählte die Geschichte in unbeholfenen Sätzen -denn, da er die Art des Bischofs kannte, und dieses schreckliche Beispiel immer vor sich hatte, fürchtete er, daß auch bei ihm sein Predigtstil in die Alltagssprache übergehen könnte – und etwa bei jedem dritten Satz bewegte der Doktor seinen Kopf nach unten – seine Mundwinkel zogen sich herab –
    so als ob er die verschiedenen Phasen der Geschichte abhakte, und sie bis dahin als ganz natürlich empfunden

    hätte.

    „Selbst-
    Hypnotismus“, murmelte er einmal.
    „Wie bitte?“ sagte der Vikar.
    „Nichts“, sagte der Doktor. „Gar nichts. Fahren Sie fort. Das ist außerordentlich

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