Der Besuch
jetzt gehen. Es ist dreiviertel fünf. Ich werde Ihren – Engel ...
ha, ha! ... morgen wieder besuchen, wenn ihn in der Zwischenzeit keiner abgeholt hat. Ihr Verband war wirklich ausgezeichnet. Was das betrifft, so schmeichelt es auch mir. Unsere Sanitätskurse sind, wie Sie sehen, ein Erfolg gewesen ... Schönen Nachmittag noch.“ 15
Fast mechanisch öffnete der Vikar die Tür, um Crump hinauszulassen, und er sah Mendham, seinen Kurat, den Pfad heraufkommen, vorbei an der purpurnen Wicke und dem Mädesüß.
Bei diesem Anblick glitt seine Hand an sein Kinn, und er blickte verdutzt drein. Angenommen, er täuschte sich. Der Doktor ging an dem Kurat vorbei und strich mit der Hand über den Hutrand. Crump ist ein außergewöhnlich kluger Mensch, dachte der Vikar, und wußte über jemandes Verstand weit besser Bescheid als der betreffende selbst. Der Vikar fühlte das ganz deutlich. Es erschwerte die Erklärung, die nicht ausbleiben durfte. Angenommen, er ginge zurück in den Salon und würde bloß einen Landstreicher auf dem Kaminvorleger vorfinden.
Mendham war ein leichenblasser Mensch mit einem prächtigen Bart. Es sah gerade so aus, als konzentriere sich bei ihm alles auf den Bartwuchs, so wie bei einer Senfpflanze alles vorwiegend der Samenausbildung dient. Aber wenn er sprach, stellte man fest, daß er auch eine Stimme hatte.
„Meine Frau kam in einem schrecklichen Zustand nach Hause“, schmetterte er bereits aus großer Entfernung heraus.
„Kommen Sie herein“, sagte der Vikar, „kommen Sie herein. Ein höchst außergewöhnlicher Vorfall. Bitte kommen Sie herein. Kommen Sie in das Arbeitszimmer. Es tut mir wirklich furchtbar leid. Aber wenn ich erkläre ...“
„Und sich entschuldigen, hoffe ich“, schrie der Kurat.
„Und mich entschuldigen. Nein, nicht hier.
Hier entlang. In das Arbeitszimmer.“
„Also, was war das für eine Frau?“ sagte der Kurat, und wandte sich zum Vikar um, als dieser die Tür des Arbeitszimmers schloß.
„Welche Frau?“
„Pah!“
„Aber wirklich!“
„Dieses geschminkte Geschöpf, das nur leicht bekleidet war – widerwärtig leicht bekleidet, um es offen zu sagen – mit dem Sie durch den Garten promeniert sind.“
„Mein lieber Mendham – das war ein Engel!“
„Ein sehr schöner Engel?“
„Die Welt wird so prosaisch“, sagte der Vikar.
„Die Welt“, brüllte der Kurat, „wird jeden Tag schlechter. Aber daß ein Mann in Ihrer Stellung so schamlos, so offen ...“
„Zum Teufel!“ sagte der Vikar leise zur Seite gekehrt. Er fluchte selten. „Schauen Sie, Mendham, Sie irren sich wirklich. Ich kann Ihnen versichern ...“
„Sehr gut“, sagte der Kurat. „Erklären Sie!“ Er stand mit leicht auseinandergespreizten Beinen und verschränkten Armen da und blickte finster aus seinem großen Bart auf den Vikar.
(Erklärungen, das wiederhole ich, habe ich immer als typischen Trugschluß dieses wissenschaftlichen Zeitalters betrachtet.) Der Vikar blickt sich hilflos um. Die ganze Welt war dumpf und öde geworden. Hatte er den ganzen Nachmittag geträumt? War wirklich ein Engel im Salon? Oder war er das Opfer einer verwirrenden Sinnestäuschung?
„Nun?“ fragte Mendham, als eine Minute vergangen war.
Die Hand des Vikars fuhr zitternd über das Kinn. „Es ist eine so langwierige Geschichte“, sagte er.
„Zweifellos“, sagte Mendham schroff.
Der Vikar unterdrückte ein ungeduldiges Aufbrausen.
„Ich habe diesen Nachmittag nach einem seltsamen Vogel Ausschau gehalten ... Glauben Sie an Engel, Mendham, an richtige Engel?“
„Ich bin nicht hier, um über theologische Fragen zu diskutieren. Ich bin der Ehemann einer beleidigten Frau.“
„Aber ich versichere Ihnen, es geht nicht um eine Redensart: es geht wirklich um einen Engel, einen richtigen Engel mit Flügeln. Er ist jetzt im Zimmer nebenan. Sie mißverstehen mich vollkommen ...“
„Wirklich, Hillyer ...“
„Es ist wahr, ich versichere Ihnen, Mendham.
Ich schwöre, daß es wahr ist.“ Die Stimme des Vikars wurde eindringlich. „Ich weiß nicht, welche Sünde ich begangen habe, daß ich Engel als Besucher bewirten und einkleiden muß.
Ich weiß nur, daß ich – wie ungelegen das zweifellos auch ist – jetzt einen Engel im Salon habe, der meinen neuen Anzug trägt und eben seinen Tee austrinkt. Und er ist, ohne sich genauer zu äußern, auf meine Einladung hin bei mir geblieben. Zweifellos war es voreilig von mir. Aber ich kann ihn ja nicht wegjagen, verstehen Sie, nur
Weitere Kostenlose Bücher