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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H.G. Wells
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vorbildlichsten Leute hierzulande bereits ab, Künstler zu unterstützen. Die jüngsten Skandale ...“

    „Nur Literaten, wie ich dir versichern kann, meine Liebe. Was Musiker anlangt ...“
    „Nichts, was du sagst, meine Liebe“, sagte Mrs. Mendham, und wich vom Thema ab,
    „wird mich davon überzeugen, daß das Kostüm dieser Person nicht außerordentlich zweideutig und unschicklich war.“

32
    Der Engel kam nachdenklich an der Hecke des Feldes entlang auf das Pfarrhaus zu. Die Strahlen der untergehenden Sonne fielen auf seine Schultern, färbten das Pfarrhaus golden und glommen in allen Fenstern wie Feuer. Am Tor, von Sonnenlicht überflutet, stand die kleine Delia, das Dienstmädchen. Sie überschattete die Augen mit der Hand und beobachtete ihn.
    Plötzlich kam dem Engel zu Bewußtsein, daß wenigstens sie schön war, und nicht nur schön, sondern auch lebensvoll und warmherzig.
    Sie öffnete das Tor für ihn und trat beiseite.
    Er tat ihr leid, denn ihre ältere Schwester war ein Krüppel. Er verbeugte sich vor ihr, wie er das vor jeder Frau gemacht haben würde, und sah ihr einen Augenblick lang ins Gesicht. Sie erwiderte den Blick, und irgend etwas rührte sich in ihr.
    Der Engel machte eine unentschlossene Bewegung. „Deine Augen sind sehr schön“, sagte er leise, mit leichter Verwunderung in seiner Stimme.
    „Oh, Sir!“ sagte sie und fuhr zurück. Im Gesicht des Engels machte sich Verwirrung breit.
    Er setzte seinen Weg über den Pfad zwischen den Blumenbeeten des Vikars fort, und sie stand da und hielt mit der Hand das Tor auf und starrte ihm nach. Unter der von Rosen umrankten Veranda drehte er sich um und blickte zu ihr hin.
    Sie starrte ihn noch einen Augenblick an, und kehrte ihm dann mit einer seltsamen Geste den Rücken zu, schloß dabei das Tor und schien dann talabwärts in Richtung Kirchturm zu schauen.

33
    Beim Essen erzählte der Engel dem Vikar dann die eindrucksvolleren Erlebnisse dieses Tages.
    „Das Seltsame“, sagte der Engel, „an euch Menschen ist die Bereitwilligkeit – die Freude, mit der ihr Schmerz zufügt. Diese Jungen, die mich heute morgen bewarfen ...“
    „Schienen Freude daran zu haben“, sagte der Vikar. „Ich weiß.“
    „Dennoch haben sie Schmerz nicht gerne“, sagte der Engel.
    „Nein“, sagte der Vikar; „sie mögen ihn nicht.“
    „Dann“, sagte der Engel, „sah ich ein paar wunderschöne Pflanzen wachsen. Sie hatten eine Ähre aus Blättern, zwei auf der einen Seite und zwei auf der anderen, und als ich meine Hand darübergleiten ließ, verursachten sie den unangenehmsten ...“
    „Brennessel!“ sagte der Vikar.
    „Jedenfalls eine neue Art von Schmerz. Und eine andere Pflanze, die eine Spitze hatte, die einem Krönchen ähnelte, und deren Blätter reich verziert waren, stachelig und zackig ...“
    „Eine Distel, möglicherweise.“

    „Und in deinem Garten, die schöne, herrlich duftende Pflanze ...“
    „Die Heckenrose“, sagte der Vikar. „Ich erinnere mich.“
    „Und diese rosafarbene Blume, die aus der Kiste herausgewachsen ist ...“
    „Aus der Kiste?“ sagte der Vikar.
    „Letzte Nacht“, sagte der Engel, „die, die Vorhänge hinaufkletterte – Flamme!“
    „Oh! – die Zündhölzer und die Kerzen! Ja“, sagte der Vikar.
    „Und dann die Tiere. Ein Hund hat sich heute reichlich ungebührlich benommen – und diese Jungen, und die Art, wie die Leute sprechen.
    Jeder scheint begierig darauf – um jeden Preis
    –, diesen Schmerz auszuteilen. Jeder scheint damit beschäftigt zu sein, Schmerz auszuteilen
    ...“
    „Oder ihm zu entgehen“, sagte der Vikar und schob das Essen, das er vor sich hatte, weg. „Ja
    – natürlich. Überall wird gekämpft. Die ganze Welt ist ein Schlachtfeld – die ganze Welt. Wir werden vom Schmerz regiert. Hier. Wie offen das zutage liegt! Dieser Engel sieht es in einem Tag!“
    „Aber warum will jeder – alles – Schmerz austeilen?“ fragte der Engel.

    „Ist es im Land der Engel nicht so?“ sagte der Vikar.
    „Nein“, sagte der Engel. „Warum ist es hier so?“
    Der Vikar wischte sich langsam mit der Serviette die Lippen. „Es ist eben so“, sagte er.
    „Schmerz“, fuhr er noch langsamer fort, „ist das Um und Auf dieses Lebens. Wissen Sie“, sagte er nach einer Pause, „es ist beinahe unmöglich für mich, mir ... eine Welt ohne Schmerz vorzustellen ... Und dennoch, als Sie heute morgen gespielt haben ...
    „Aber diese Welt ist anders. Das genaue Gegenteil der Welt der Engel.

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