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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H.G. Wells
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Mädchen! Sie sind zu schockiert, um darüber sprechen zu können. Ich erzählte es der lieben Lady Ham ...“

    „Recht anständig von ihnen. Es war schrecklich, meine Liebe. Für sie.“
    „Und jetzt, meine Liebe, sag mir bitte ganz offen ... Glaubst du wirklich, daß dieses Geschöpf ein Mensch gewesen ist?“
    „Du hättest das Geigenspiel hören sollen.“
    „Ich hege noch immer den ziemlich starken Verdacht, Jessie ...“ Mrs. Mendham beugte sich vor, als wollte sie flüstern.
    Mrs. Jehoram nahm ein Stück Kuchen. „Ich bin sicher, daß keine Frau so Geige spielen könnte, wie ich heute morgen jemanden Geige spielen gehört habe.“
    „Wenn du das sagst, ist diese Frage geklärt“, sagte Mrs. Mendham. Mrs. Jehoram war die unumschränkte Autorität in Siddermorton, was Kunst, Musik und schöne Literatur betraf.
    Ihr seliger Gatte war ein mittelmäßiger Dichter gewesen. Dann fügte Mrs. Mendham ein kritisches „Trotzdem ...“ hinzu.
    „Weißt du“, sagte Mrs. Jehoram, „ich bin bereits ein wenig geneigt, dem guten Vikar seine Geschichte zu glauben.“
    „Wie lieb von dir, Jessie“, sagte Mrs. Mendham.
    „Aber jetzt im Ernst, ich glaube nicht, daß er vor diesem Nachmittag irgend jemand im Pfarrhaus gehabt haben könnte. Ich bin mir sicher, daß wir davon gehört hätten. Ich kann einfach nicht glauben, daß sich eine fremde Katze Siddermorton bis auf vier Meilen nähern könnte, ohne daß wir davon erfahren. Die Leute hier sind so klatschsüchtig ...“
    „Ich mißtraue dem Vikar immer“, sagte Mrs.
    Mendham. „Ich kenne ihn.“
    „Ja. Aber die Geschichte ist glaubhaft. Wenn dieser Mr. Engel nun sehr gescheit und exzentrisch wäre ...“
    „Er müßte sehr exzentrisch sein, um sich so zu kleiden, wie er es getan hat. Es gibt Maß und Ziel, meine Liebe.“
    „Aber ein Kilt“, sagte Mrs. Jehoram.
    „Ist schön und gut im schottischen Hochland ...“
    Mrs. Jehorams Augen hatten auf einem schwarzen Punkt geruht, der sich langsam über einen gelblich-grünen Fleck bergauf bewegte.
    „Dort geht er“, sagte Mrs. Jehoram, und stand auf, „über das Kornfeld. Ich bin sicher, daß er es ist. Ich kann den Buckel sehen. Oder es ist ein Mann mit einem Sack. Himmel, Minnie! Nimm das Opernglas. Wie brauchbar es zur Beobachtung des Pfarrhauses ist! ... Ja, es ist der Mann. Er ist ein Mann. Mit einem so hübschen Gesicht.“

    In großer Selbstlosigkeit erlaubte sie ihrer Gastgeberin, das Opernglas gleichfalls zu benützen. Eine Minute lang lag gespannte Stille im Raum.
    „Seine Kleider“, sagte Mrs. Mendham, „sind jetzt recht ansehnlich.“
    „Recht ansehnlich“, sagte Mrs. Jehoram.

Pause.
    „Er sieht sehr verdrießlich aus!“
    „Und sein Rock ist staubig.“
    „Er geht ziemlich ruhig dahin“, sagte Mrs.
    Mendham, „oder man könnte denken ... Diese Hitze ...“

Wieder Pause.
    „Du siehst, meine Liebe“, sagte Mrs. Jehoram und legte das Opernglas nieder. „Was ich sagen wollte, war, daß er möglicherweise ein Verkleidungskünstler ist.“
    „Wenn man dieses Nichts Verkleidung nennen kann.“
    „Es war ohne Zweifel exzentrisch. Aber ich habe Kinder in kleinen Blusen gesehen, die ihm nicht sehr unähnlich waren. So viele gescheite Leute sind eigenartig, was ihre Kleidung und ihre Sitten betrifft. Ein Künstler kann ein Pferd stehlen, wo ein Bankbeamter nicht einmal über die Hecke blickt. Wahrscheinlich ist er sehr bekannt und lacht über unsere arkadische Einfachheit. Und schließlich war es wirklich nicht so unschicklich, wie manche dieser Radfahrkostüme für die moderne Frau. Erst vor ein paar Tagen habe ich eines in einem Journal gesehen – im „New Budget“, glaube ich – richtige Trikots, weißt du, meine Liebe. Nein – ich halte an der Künstlertheorie fest. Ganz besonders, seit ich ihn spielen gehört habe. Ich bin sicher, dieses Geschöpf ist originell. Vielleicht sehr amüsant. Wirklich, ich werde den Vikar bitten, mich vorzustellen.“
    „Meine Liebe!“ rief Mrs. Mendham.
    „Das ist meine feste Absicht“, sagte Mrs. Jehoram.
    „Ich fürchte, du bist unbesonnen“, sagte Mrs.
    Mendham. „Künstler und ähnliche Leute in London, schön und gut. Aber hier – im Pfarrhaus.“
    „Wir werden den Leuten Bildung beibringen.
    Ich liebe Originalität. Ich möchte ihn um jeden Preis sehen.“
    „Gib acht, daß du nicht zuviel von ihm siehst“, sagte Mrs. Mendham. „Wie ich gehört habe, hat sich die Mode sehr geändert. Soweit ich informiert bin, lehnen es einige der

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