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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H.G. Wells
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Tatsächlich sind zahlreiche Leute – vorbildlich religiöse Menschen – so beeindruckt von der Allgegenwart des Schmerzes, daß sie denken, viele von uns erwarte nach dem Tod noch weit Schlimmeres.
    Mir scheint das etwas übertrieben zu sein.
    Aber es ist ein schwerwiegendes Problem. Es geht fast über unser Fassungsvermögen ...“ Und übergangslos verfiel der Vikar in einen Stegreif-Monolog über den Begriff der „Notwendigkeit“, warum Dinge so waren, weil sie eben so waren, warum jemand das und jenes tun mußte. „Sogar unsere Nahrung“, sagte der Vikar. „Was?“ unterbrach ihn der Engel. „Bekommen wir nicht, ohne Schmerz zuzufügen“, sagte der Vikar.
    Das Gesicht des Engels wurde so bleich, daß sich der Vikar plötzlich zur Mäßigung rief. Es kann auch sein, daß er gerade beabsichtigte, eine prägnante Erklärung dessen zu liefern, was einer Lammkeule vorausgeht. Eine Pause trat ein.
    „Nebenbei bemerkt“, sagte der Engel plötzlich, „hat man dich auch mit Mark gefüllt? Wie die gewöhnlichen Leute.“

34
    Als Lady Hammergallow zu einem Entschluß gekommen war, entwickelten sich die Dinge ihrer Vorstellung entsprechend. Und trotz des leidenschaftlichen Protestes des Vikars führte sie ihren Plan aus und versammelte Zuhörerschaft, Engel und Violine in Haus Siddermorton, noch ehe die Woche vorüber war. „Eine Entdeckung des Vikars“, sagte sie; in weiser Voraussicht die Schmach eines möglichen Mißerfolges auf die Schultern des Vikars abwälzend. „Wie mir unser guter Vikar erzählt“, fuhr sie fort und ließ ergötzliche Anekdoten über die Virtuosität des Engels folgen. Aber sie war auch recht verliebt in ihren Plan – immer schon hatte sie das heimliche Verlangen verspürt, verborgene Talente zu fördern. Bisher hatte sich noch keiner nach eingehender Prüfung als Talent erwiesen.
    „Es wäre so vorteilhaft für ihn“, sagte sie.
    „Sein Haar ist bereits lang, und mit dieser edlen Haarfarbe würde er auf einer Bühne großartig, einfach großartig aussehen. Mit den schlechtsitzenden Kleidern des Vikars sieht er bereits wie ein gefeierter Pianist aus. Und das Ärgernis seiner Herkunft – nicht ausposaunt natürlich, sondern nur gemunkelt – würde einen ziemlichen Anreiz bedeuten für den Fall, daß er nach London kommt.“
    Den Vikar suchten die schrecklichsten Ahnungen heim, je näher der Tag herankam. Er brauchte Stunden, um dem Engel die Situation zu erklären, und noch weitere Stunden, um sich vorzustellen, was die Leute denken würden, und ganz schlimme Stunden, um das Verhalten des Engels abzusehen. Bis zu dem Zeitpunkt hatte der Engel nur zu seinem eigenen Vergnügen gespielt. Der Vikar hatte ihn wohl dann und wann aufgeschreckt, wenn er ihn mit einem neuen wichtigen Gebot der Etikette, das ihm gerade eingefallen war, überfiel.
    Gebote, wie zum Beispiel das folgende: „Es ist äußerst wichtig, wo Sie Ihren Hut ablegen, verstehen Sie. Legen Sie ihn niemals auf einen Stuhl, gleichgültig in welcher Situation. Halten Sie ihn, bis Sie den Tee bekommen, und dann –
    lassen Sie mich überlegen – dann legen Sie ihn irgendwohin, verstehen Sie.“ Die Fahrt zum Haus Siddermorton ging ohne Mißgeschick vonstatten, aber beim Vorstellen überwältigten den Vikar schreckliche Ahnungen. Er hatte vergessen, das Vorstellen zu erklären. Das unbefangene Vergnügen des Engels war augenfällig, aber nichts wirklich Entsetzliches ereignete sich.
    „Komischer Schmierfink“, sagte Mr. Rathbone Slater, der viel Wert auf Kleidung legte.
    „Ungepflegt. Keine Manieren. Grinste, als er mich Hände schütteln sah. Dabei hab’ ich es ziemlich elegant gemacht, will mir scheinen.“ Ein belangloses Mißgeschick ereignete sich.
    Als Lady Hammergallow den Engel willkommen hieß, schaute sie ihn durch ihre Brille an.
    Die scheinbare Größe ihrer Augen erschreckte ihn. Seine Überraschung und sein spontaner Versuch, über den Brillenrand zu spähen, waren nur zu deutlich. Aber vor dem Hörrohr hatte ihn der Vikar gewarnt.
    Die Unfähigkeit des Engels, sich auf etwas anderes als einen Klaviersessel zu setzen, schien einiges Interesse unter den Damen zu erregen, hatte aber keine Bemerkungen zur Folge. Sie werteten es möglicherweise als Geziertheit eines angehenden Berufskünstlers. Er ging etwas nachlässig mit den Teeschalen um und verstreute die Kuchenbrösel in der ganzen Gegend. (Vergessen Sie nicht, daß er im Essen ein Anfänger war!) Er schlug die Beine übereinander. Er bemühte sich

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