Der Besuch
über den klaren Himmel ihres Geistes, nahmen Gestalt an, wandelten sich und verschwanden. Sie besaß all jene Zartheit des Gefühls, jenes zarte, innige Verlangen, sich aufzuopfern, das auf unerforschliche Weise im Herzen eines Mädchens vorhanden ist und, wie es scheint, nur vorhanden ist, um sogleich unter den rohen und erbarmungslosen Wechselfällen des alltäglichen Lebens zertreten zu werden, um gleich wieder grob und unbarmherzig umgepflügt zu werden, so wie der Bauer den Klee umpflügt, der aus dem Boden heraussprießt. Lange bevor der Engel zu spielen begonnen hatte, hatte sie schon in die Stille des Mondlichts hinausgeschaut – und gewartet; dann war plötzlich die ruhige, reglose Schönheit aus Silber und Dunkel von zärtlicher Musik durchflutet worden.
Sie bewegte sich nicht, aber ihre Lippen schlossen sich, und ihr Blick wurde noch sanfter. Sie hatte an die seltsame Pracht gedacht, die plötzlich den Buckligen umstrahlt hatte, als er sich verbeugt und mit ihr bei Sonnenuntergang gesprochen hatte; daran und an ein Dutzend weiterer Blicke und gelegentlicher Zusammentreffen, einmal hatte er sogar ihre Hand berührt. An jenem Nachmittag, an dem er ihr so seltsame Fragen gestellt hatte. In diesem Augenblick schien die Musik sein Antlitz vor ihr erstehen zu lassen, seinen halb besorgten, halb neugierigen Blick, der auf ihr Gesicht, ihre Augen gerichtet war, dieser Blick, der in sie hinein- und durch sie hindurchging, der bis tief in ihre Seele drang. Jetzt schien er das Wort direkt an sie zu richten, schien ihr von seiner Einsamkeit und seinem Kummer zu erzählen. Oh, diese Trauer, diese Sehnsucht!
Denn er hatte Kummer. Und wie konnte ihm ein Dienstmädchen helfen, diesem so freundlichen Gentleman, der so gut war, der so wunderbar spielte. So wunderbar und ergreifend war die Musik, und so mitten ins Herz traf sie, daß sich bald eine Hand fest um die andere schloß und Tränen über Delias Gesicht rannen.
Crump würde Ihnen versichern, daß Menschen so etwas nicht tun, außer wenn ihr Nervensystem nicht in Ordnung ist. Aber dann muß Liebe, vom Standpunkt der Wissenschaft aus gesehen, ein pathologischer Zustand sein.
Ich bin mir der anstößigen Wirkung dieses Abschnitts meiner Erzählung peinlich bewußt.
Ich habe sogar flüchtig erwogen, die Wahrheit vorsätzlich zu entstellen, um die Damen unter meinen Lesern versöhnlich zu stimmen. Aber ich habe es nicht über mich gebracht. Die Geschichte bedeutet mir zuviel. Offen und ehrlich möchte ich sie berichten. Delia muß bleiben, was sie gewesen ist – ein Dienstmädchen. Es ist mir klar, daß mich die Tatsache, daß ich einem gewöhnlichen Dienstmädchen oder wenigstens einem englischen Dienstmädchen die verfeinerten Gefühle eines menschlichen Wesens zugestehe, daß ich sie sprechen lasse, ohne Vokale oder Konsonanten ständig auf unerträgliche Weise zu verschlucken, aus dem Kreis reputierli-cher Schriftsteller verbannt.
Umgang mit Dienstboten, sei es auch nur in Gedanken, ist in unseren Zeiten gefährlich. Ich kann nur einwenden (vergeblich, wie ich weiß), daß Delia ein ganz außerordentliches Dienstmädchen war. Möglicherweise würde man, stellte man Nachforschungen an, herausfinden, daß ihre Familie der oberen Mittelklasse angehörte – daß sie aus den feineren Stoff der oberen Mittelklasse gemacht worden ist.
Und (das wird mir vielleicht von größerem Nutzen sein) ich werde versprechen, daß ich in einem meiner nächsten Werke das Gleichgewicht wiederherstellen werde und dem geduldigen Leser wieder die althergebrachte Typisierung liefere, unförmige Hände und Füße, systematisches Verschlucken von Lauten, kein gefälliges Äußeres (nur Mädchen aus der Mittelklasse haben ein gefälliges Äußeres –
so etwas übersteigt die Grenzen eines Dienstmädchens), Stirnfransen (nach Vereinbarung) und eine fröhliche Bereitwilligkeit, ihre Selbstachtung um ein Fünfshillingstück zu verschleudern. Das ist die angemessene englische Dienstbotin, die typische Engländerin (wenn sie ohne Geld und Bildung ist), wie sie uns in den Werken zeitgenössischer Schriftsteller entgegentritt. Aber Delia war irgendwie anders. Ich kann diesen Umstand nur bedauern –
er lag vollkommen außerhalb meiner Verfügungsgewalt.
41
Am nächsten Morgen, zeitig in der Früh, ging der Engel durch das Dorf, überkletterte den Zaun und watete durch das hüfthohe Schilf, das den Sidder säumte. Er ging zur Bandram-Bucht, um das Meer aus nächster Nähe betrachten zu
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