Der Besuch
Ihnen zu sagen“, sagte Horrocks.
„Ja“, sagte der Vikar. „Danke, Horrocks, danke!“ Er kratzte sich am Hinterkopf. „Sie könnten vielleicht ... ich denke, es ist am besten ...
Ganz sicher, daß es Mr. Engel getan hat?“
„Sherlock Holmes, Sir, könnte nicht todsicherer sein.“
„Dann wird es am besten sein, ich gebe Ihnen eine kurze Mitteilung für den Friedensrichter mit.“
39
An diesem Abend war das Tischgespräch des Vikars, nachdem der Engel seine Argumente dargelegt hatte, voll von grimmigen Erklärungen, Gefängnissen, Tollheit.
„Es ist jetzt zu spät, die Wahrheit über Sie zu sagen“, sagte der Vikar. „Außerdem ist das unmöglich. Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen sollte. Ich vermute, wir müssen den Tatsachen ins Auge blicken. Ich bin so unschlüssig – so zerrissen. Das machen diese zwei Welten.
Wenn Ihr Land der Engel doch nur ein Traum wäre, oder wenn diese Welt nur ein Traum wäre – oder wenn ich einen der beiden oder beide Träume glauben könnte, wäre mir geholfen. Aber da ist ein wirklicher Engel und eine wirkliche gerichtliche Vorladung – wie ich sie in Einklang bringen soll, weiß ich nicht. Ich muß mit Gotch sprechen ... Aber er wird es nicht verstehen. Niemand wird es verstehen ...“
„Ich bringe dich in schreckliche Schwierigkeiten, fürchte ich. Meine entsetzliche Weltfremdheit ...“
„Es liegt nicht an Ihnen“, sagte der Vikar. „Es liegt nicht an Ihnen. Es ist mir klar, daß Sie etwas Fremdes und Schönes in mein Leben gebracht haben. Es liegt nicht an Ihnen. Es liegt an mir.
Wenn ich mehr Glauben an eine der beiden Welten besäße. Wenn ich völlig an diese Welt glauben könnte und Sie ein ,abnormes Phänomen’ nennen könnte, wie Crump das tut. Aber nein. Irdisch engelhaft, engelhaft irdisch ... hin und her.
Trotzdem, Gotch wird ganz sicher unangenehm sein, sehr unangenehm. Er ist immer unangenehm. Es liefert mich ihm aus. Moralisch gesehen, ist er ein schlechter Einfluß, das weiß ich. Trinken. Spielen. Schlimmer noch.
Dennoch, man muß dem Kaiser geben, was des Kaisers ist. Und er ist gegen die Trennung von Staat und Kirche ...“
Dann kam der Vikar auf das gesellschaftliche Fiasko des Nachmittags zurück. „Sie sind so bedingungslos, wissen Sie“, sagte er einige Male.
Der Engel ging in sein Zimmer, er war verwirrt, aber auch sehr niedergeschlagen. Mit jedem Tag hatte ihn die Welt finsterer angeblickt, ihn und sein engelhaftes Wesen. Er bemerkte, wie Sorge den Vikar ergriff, konnte aber keine Möglichkeit entdecken, wie er das verhindern sollte. Es war alles zu fremd und unbegreiflich. Auch war er wieder zweimal mit einem Hagel von Wurfgeschossen aus dem Dorf gejagt worden.
Er fand die Violine auf dem Bett, dort, wo er sie vor dem Essen hingelegt hatte. Und er nahm sie auf und begann zu spielen, um sich zu trösten. Aber jetzt spielte er keine zarte Vision vom Land der Engel. Die Kälte der Welt war in seine Seele gekrochen. Eine Woche lang hatte er jetzt Schmerz und Ablehnung, Argwohn und Haß kennengelernt; ein fremder, neuer Geist des Aufruhrs regte sich in seinem Herzen. Er spielte eine Melodie, noch immer lieblich und zart wie jene aus dem Land der Engel, aber behaftet mit einem neuen Ton, dem Ton menschlichen Leides und menschlicher Plagen, bald anschwellend wie zu einem Trotz, bald zu klagender Trauer ersterbend. Er spielte sanft, spielte nur für sich, um sich zu trösten, aber der Vikar hörte es, und all seine irdischen Sorgen wurden von einer vagen Melancholie verdrängt, einer Melancholie, die weit entfernt von Sorge war. Und außer dem Vikar hatte der Engel noch einen Zuhörer, an den weder der Engel noch der Vikar dachten.
40
Sie war im westwärts gelegenen Giebel, keine fünf Meter vom Engel entfernt. Das aus rhombenförmigen Scheiben zusammengesetzte Fenster stand offen. Sie kniete auf der lackierten Weißblechkiste, und das Kinn ruhte auf ihren Händen, ihre Ellbogen waren am Fensterbrett aufgestützt. Der Mond, der gerade aufgegangen war, stand über den Kiefern, und sein Schein, kühl und bleich, lag sanft auf der stillen, schlafenden Welt. Sein Schein fiel auf ihr weißes Gesicht und enthüllte eine ganz neue Tiefe in ihren traumverlorenen Augen.
Ihre weichen Lippen öffneten sich und entblö
ßten ihre weißen Zähne.
Gedanken gingen durch Delias Kopf, verschwommen, wunderbar, wie es bei Mädchen so zu sein pflegt. Es war mehr ein Fühlen als ein Denken; Wolken wunderbarer, lichter Gefühle trieben
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