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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H.G. Wells
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können, das man sonst nur an klaren Tagen von den Anhöhen des Siddermorton-Parks sehen konnte. Und plötzlich stieß er auf Crump, der auf einem Klotz saß und rauchte. (Crump rauchte jede Woche genau 60 Gramm Tabak – und er rauchte ihn immer an der frischen Luft.)
    „Hallo!“ sagte Crump mit einer vor Gesundheit strotzenden Stimme. „Wie geht’s dem Flügel?“
    „Sehr gut“, sagte der Engel. „Der Schmerz ist weg.“
    „Ich nehme an, Sie wissen, daß Sie hier unbefugt eindringen?“
    „Unbefugt eindringen!“ sagte der Engel.
    „Ich glaube, Sie wissen nicht, was das heißt.“ sagte Crump.
    „Nein“, sagte der Engel.
    „Ich muß Ihnen gratulieren. Ich weiß nicht, wie lange Sie das durchhalten, aber Sie machen es bemerkenswert gut. Ich dachte zuerst, Sie seien ein genialer Narr, aber Sie sind so erstaunlich konsequent. Diese Haltung bodenloser Ignoranz, was die grundlegenden Dinge des Lebens betrifft, ist eine recht amüsante Pose. Sie machen natürlich Fehler, aber nur sehr wenige. Aber sicherlich verstehen wir beide einander.“ Er lächelte den Engel an. „Sie würden Sherlock Holmes schlagen. Ich wüßte gerne, wer Sie wirklich sind.“
    Der Engel lächelte zurück, die Augenbrauen hochgezogen und die Hände ausgebreitet. „Du wirst niemals wissen, wer ich bin. Deine Augen sind blind, deine Ohren taub, deine Seele verhärtet für all das, was an mir wunderbar ist. Es hat keinen Sinn, wenn ich dir sage, daß ich in eure Welt gefallen bin.“
    Der Doktor schwenkte seine Pfeife. „Nicht das schon wieder, bitte. Ich will Sie nicht aushorchen, wenn Sie Ihre Gründe haben, dar
    über zu schweigen. Nur möchte ich Sie bitten, auf Hillyers geistige Verfassung Rücksicht zu nehmen. Er glaubt diese Geschichte wirklich.“ Der Engel zuckte mit seinen schwindenden Flügeln.
    „Sie haben ihn vor dieser Sache nicht gekannt. Er hat sich schrecklich verändert. Früher war er ordentlich und angenehm. Die letzten vierzehn Tage schien er ziemlich zerstreut, mit diesem abwesenden Blick in seinen Augen.
    Letzten Sonntag predigte er ohne Manschettenknöpfe, und auch mit der Krawatte stimmte etwas nicht, und als Bibelstelle wählte er aus: ,Kein Auge hat es geschaut, kein Ohr hat es gehört.’ Er glaubt wirklich all diesen Unsinn vom Land der Engel. Der Mann ist an der Grenze zur Monomanie!“
    „Du willst die Dinge von deinem Standpunkt sehen“, sagte der Engel.
    „Jeder muß das. Jedenfalls halte ich es für sehr bedauerlich, diesen armen alten Kerl so auf diese Idee zu fixieren, wie Sie dies offensichtlich getan haben. Ich habe keine Ahnung, woher Sie kommen oder wer Sie sind, aber ich warne Sie, ich werde nicht mehr lange zusehen, wie Sie aus dem alten Knaben einen Narren machen.“
    „Aber ich mache aus ihm keinen Narren. Er beginnt ganz einfach von einer Welt zu träumen, die er nicht kennt ...“
    „Das reicht mir nicht“, sagte Crump. „Ich bin nicht von gestern. Sie sind entweder – ein Irrer auf freiem Fuß (was ich allerdings nicht glaube) oder ein Schurke. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Ich glaube, mit dieser Welt kenne ich mich ein wenig aus, ganz gleich, was ich von Ihrer wissen mag. Schön.
    Wenn Sie Hillyer nicht in Ruhe lassen, werde ich mich mit der Polizei in Verbindung setzen und Sie entweder ins Gefängnis bringen, wenn Sie Ihre Geschichte widerrufen, oder, wenn Sie das nicht tun, ins Irrenhaus. Es geht vielleicht zu weit, aber ich versichere Ihnen, daß ich Sie morgen amtlich für geisteskrank erklären werde, um Sie aus dem Dorf zu schaffen. Nicht nur wegen des Vikars. Das wissen Sie. Ich hoffe, das war deutlich genug. Nun, was haben Sie darauf zu erwidern?“
    Mit dem Anschein großer Ruhe nahm der Doktor sein Federmesser heraus und fuhr mit der Klinge in den Pfeifenkopf. Die Pfeife war ihm während dieser Rede ausgegangen.
    Einen Augenblick lang sprach keiner von beiden. Der Engel sah sich um, er war blaß geworden. Der Doktor zog einen Pfropfen Tabak aus der Pfeife und warf ihn weg, klappte das Federmesser zu und steckte es in seine Westentasche. Er hatte nicht ganz so mit Nachdruck sprechen wollen, aber bei Reden wurde er immer etwas hitzig.
    „Gefängnis“, sagte der Engel. „Irrenhaus! Laß mich überlegen.“ Dann erinnerte er sich an die Erklärung des Vikars. „Nur das nicht!“ sagte er. Er näherte sich Crump mit weitgeöffneten Augen und ausgestreckten Händen.
    „Ich wußte, Sie würden jedenfalls wissen, was diese Dinge bedeuten. Setzen Sie sich“,

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