Der Besucher - Roman
Besuch beiseitenahm, um mir einen Bericht über seinen Zustand zu geben.
»Insgesamt geht es ihm gar nicht so schlecht«, sagte der Assistent. Er war jünger als Warren und in seiner Herangehensweise etwas unbeschwerter. »Jedenfalls scheint er die meisten Wahnvorstellungen abgeschüttelt zu haben. Wir haben es geschafft, ihm etwas Lithiumbromid zu verabreichen, und das hat geholfen. Auf jeden Fall schläft er jetzt besser. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es sich bei ihm um einen Einzelfall handelt, aber Sie haben wahrscheinlich bemerkt, dass wir etliche Männer in seinem Alter hierhaben: Alkoholiker, Nervenzusammenbrüche, Männer, die immer noch an Kriegsneurosen leiden – alles Auswirkungen einer allgemeinen Nachkriegserkrankung, wenn Sie mich fragen. Im Grunde genommen steht hinter allem dasselbe Problem, wenn es sich auch je nach individueller Veranlagung unterschiedlich auswirkt. Wenn Rod ein anderer Typ wäre, mit anderem gesellschaftlichen Hintergrund, wäre er vielleicht ein Spieler geworden – oder ein Frauenheld. Oder er hätte Selbstmord begangen. Nachts will er immer noch in seinem Zimmer eingeschlossen werden; wir hoffen, dass wir ihn davon noch abbringen können. Sie haben vielleicht keine große Veränderung an ihm feststellen können, aber … nun ja …« Er blickte verlegen drein. »Ich wollte vor allem mit Ihnen sprechen, weil ich glaube, dass er durch Ihre Besuche immer wieder zurückgeworfen wird. Er ist nach wie vor davon überzeugt, dass er eine Art Gefahr für seine Familie darstellt. Er glaubt, er müsse diese Gefahr im Zaum halten, und diese Bemühungen strengen ihn ungeheuer an. Wenn keiner hier ist, der ihn an sein Zuhause erinnert, ist er ein anderer Mensch, sehr viel gelöster. Die Schwestern und ich haben ihn beobachtet, und wir haben alle den gleichen Eindruck.«
Wir standen in seinem Büro, und von seinem Fenster aus, das auf den Vorplatz führte, sah ich, wie Mrs. Ayres und Caroline gebeugt und dick eingepackt gegen die Kälte zu meinem Auto zurückgingen. »Die Besuche hier belasten seine Mutter und seine Schwester natürlich auch stark«, sagte ich. »Ich könnte sie sicherlich davon überzeugen, dass es besser ist, wenn ich allein komme, wenn Sie das möchten.«
Er bot mir eine Zigarette aus dem Kasten auf seinem Tisch an.
»Um ehrlich zu sein, glaube ich, Rod hätte es lieber, wenn Sie alle eine Zeit lang fortblieben. Sie führen ihm zu deutlich seine Vergangenheit vor Augen. Wir müssen aber an seine Zukunft denken.«
»Aber sicherlich wäre es doch …«, begann ich, während meine Hand über dem Kasten schwebte. »Ich bin doch sein Arzt. Und ganz davon abgesehen sind er und ich gute Freunde.«
»Die Sache ist die: Rod hat ausdrücklich darum gebeten, dass er eine Zeit lang in Ruhe gelassen wird – von Ihnen allen. Es tut mir leid.«
Schließlich nahm ich doch keine Zigarette. Ich verabschiedete mich von Warrens Assistent, ging über den Vorplatz zu Mrs. Ayres und Caroline und fuhr die beiden nach Hause. Obwohl wir Rod in den folgenden Wochen regelmäßig schrieben und auch gelegentlich einen lustlosen Antwortbrief erhielten, ermunterte er uns in keinem seiner Briefe dazu, ihn noch einmal zu besuchen. Sein Zimmer auf Hundreds mit den verkohlten Wänden und der geschwärzten Decke wurde einfach dichtgemacht. Und da Mrs. Ayres inzwischen nachts häufiger hustend oder mit Atemnot erwachte und dann Medizin oder eine Inhalation brauchte, bezog Betty das Zimmer gleich um die Ecke der Galerie, das Roderick als Schuljunge bewohnt hatte.
»Es ist doch vernünftiger, wenn sie hier oben bei uns schläft«, erklärte Mrs. Ayres kurzatmig. »Und das Mädchen hat es weiß Gott verdient. Sie hat sich bei all unseren Schwierigkeiten sehr anständig und loyal verhalten. Im Untergeschoss ist es zu einsam für sie.«
Betty war natürlich hocherfreut über die Veränderung. Ich dagegen merkte, dass mir dieser Wechsel ein gewisses Unbehagen verursachte, und als ich kurz nach ihrem Umzug in das Zimmer schaute, fühlte ich mich noch deprimierter: Die Tabellen und Schaubilder der Air Force, die Pokale und die Abenteuerbücher waren alle fort, und Bettys wenige Habseligkeiten, die Unterröcke und geflickten Strümpfe, die Bürste von Woolworth und die rührseligen Postkarten an den Wänden, reichten schon aus, um das Zimmer vollständig zu verwandeln. Unterdessen stand der gesamte Nordflügel von Hundreds Hall, den Caroline mir gegenüber mal als den »Männerflügel« bezeichnet
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