Der Besucher - Roman
hatte, praktisch leer. Niemand hielt sich mehr dort auf, nur ich wanderte gelegentlich dort hinüber, und dann erschienen mir die Räume so tot wie abgestorbene Glieder. Bald war es auf unheimliche Weise so, als sei Rod niemals Herr im Hause gewesen – als sei er, noch mehr als der arme Gyp vor ihm, verschwunden, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen.
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N ach Rodericks Umzug in die Klinik war uns allen klar, dass auf Hundreds eine ganz neue Phase angebrochen war. Schon in rein praktischer Hinsicht machten sich sofort Veränderungen bemerkbar: Durch die Kosten für den Klinikaufenthalt wurde die ohnehin schon überstrapazierte finanzielle Lage des Besitzes noch schwieriger, und zusätzliche drastische Sparmaßnahmen mussten getroffen werden. Der Generator beispielsweise wurde nun tagelang ausgestellt, und wenn ich an den Winterabenden nach Hundreds Hall hinausfuhr, fand ich das Haus oftmals in beinahe völliger Dunkelheit vor. Man stellte mir eine alte Messinglaterne auf einen Tisch gleich hinter der Eingangstür, und mit dieser Laterne suchte ich mir dann meinen Weg durch die immer noch verbrannt riechenden Korridore. Mrs. Ayres und Caroline saßen für gewöhnlich bei Kerzenschein oder im Licht von Öllampen im kleinen Salon und lasen, nähten oder hörten Radio. Das Licht war zwar so schwach, dass sie bei ihren Tätigkeiten die Augen zusammenkneifen mussten, doch verglichen mit der Tintenschwärze, die im übrigen Haus herrschte, erschien das Zimmer wie eine strahlende Kapsel. Wenn die Frauen nach Betty läuteten, erschien diese mit einem altmodischen Kerzenhalter und weit aufgerissenen Augen, wie eine Figur aus einem Kinderlied.
Alle drei fanden sich mit geradezu bewundernswerter Stärke mit den neuen Bedingungen ab, wie mir schien. Betty war an Öllampen und Kerzen gewöhnt, aus ihrer Kindheit kannte sie nichts anderes. Sie schien sich inzwischen auf Hundreds eingelebt zu haben, so als hätten die jüngsten dramatischen Ereignisse überhaupt erst dazu beigetragen, dass sie ihren festen Platz im Haus fand, wenngleich sie Roderick von seinem Platz gestoßen hatten. Caroline behauptete, dass ihr die Dunkelheit gefiel, und wies darauf hin, dass das Haus ohnehin nicht für den Gebrauch von Elektrizität ausgerichtet sei und sie nun endlich so darin lebten, wie es ursprünglich vorgesehen war. Doch solche Kommentare kamen mir aufgesetzt vor, und es bereitete mir große Sorgen, dass sie und ihre Mutter in derart begrenzten Verhältnissen leben mussten. Meine Besuche hatten während der letzten, schlimmen Phase von Rods Krankheit nachgelassen, doch inzwischen fuhr ich wieder ein- oder sogar zweimal in der Woche zum Herrenhaus und brachte oft kleine Geschenke mit, Lebensmittel oder Kohle, die ich nicht selten als Mitbringsel von Patienten ausgab. Weihnachten rückte näher – für mich als Junggeselle immer ein etwas heikles Datum. Dieses Jahr war die Rede davon, dass ich den ersten Weihnachtstag wie schon mehrmals zuvor bei einem ehemaligen Kollegen und seiner Familie in Banbury verbringen sollte. Doch dann machte eine Bemerkung Mrs. Ayres’ mir klar, dass sie offenbar davon ausging, ich würde mit ihnen auf Hundreds speisen. Ich entschuldigte mich bei meinen Freunden in Banbury, und Mrs. Ayres, Caroline und ich nahmen ein ruhiges Abendessen an der langen Mahagonitafel im zugigen Speisezimmer ein. Den Braten schnitten wir selbst auf und bedienten uns, da Betty ausnahmsweise mal einen ganzen Tag und eine Nacht bei ihren Eltern verbrachte.
Doch nun zeigte Rods Abwesenheit eine weitere Wirkung. So wie wir da beisammensaßen, dachte wohl jeder von uns daran, wie wir das letzte Mal an jenem Tisch gesessen hatten, ein paar Stunden vor dem Brand, als Rods unerfreuliches Verhalten die Mahlzeit so düster überschattet hatte. Anders gesagt: Ich glaube, keiner von uns konnte sich einer gewissen schuldbewussten Erleichterung erwehren, dass dieser Schatten nun beseitigt war. Selbstverständlich wurde Rod vermisst, von Mutter und Schwester sogar schmerzlich, und bisweilen wirkte das Haus mit den drei ruhigen Frauen schrecklich stumm und leblos. Doch zweifelsohne war das Leben dort nun weniger spannungsgeladen. Und was die geschäftliche Seite anging, so schien die Tatsache, dass Rod sich jetzt nicht mehr um den Besitz kümmern konnte, kaum einen Unterschied zu machen, obwohl er sich doch vorher so zwanghaft damit befasst hatte. Irgendwie liefen die Dinge weiter vor sich hin – ja, sie
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