Der Besucher - Roman
schienen sogar besser zu laufen. Caroline forderte bei Banken und Finanzmaklern Unterlagen an, um die Papiere zu ersetzen, die im Feuer verloren gegangen waren, und stellte dabei fest, in welch desolatem Zustand sich die Finanzen der Familie tatsächlich befanden. Sie führte ein langes, offenes Gespräch mit ihrer Mutter, und gemeinsam einigten sie sich auf die drastischen Sparmaßnahmen hinsichtlich Brennstoff und Licht. Sie durchforstete das Haus schonungslos nach jedwedem Gegenstand, der sich möglicherweise gewinnbringend verkaufen ließ, und bald wurden Bilder, Bücher und Möbelstücke, die man bis dahin aus sentimentalen Erinnerungen behalten hatte, während weniger wertvolle Stücke verkauft wurden, an Händler in Birmingham abgegeben. Als wahrscheinlich drastischste Maßnahme führte Caroline zudem Verhandlungen mit dem Grafschaftsrat über den Verkauf von weiterem Parkland. Am Neujahrstag wurden entsprechende Vereinbarungen besiegelt, und als ich zwei oder drei Tage später am Westtor in den Park fuhr, stellte ich mit Entsetzen fest, dass der Bauunternehmer Babb bereits mit ein paar Landvermessern das Baugrundstück absteckte. Kurz darauf begannen die Aushebungsarbeiten, und bald wurden die ersten Rohre und Fundamente gelegt. Von einem Tag auf den anderen – so schien es mir jedenfalls – wurde ein Abschnitt der Parkmauer eingerissen, und man konnte von der Straße, die gleich hinter der Lücke vorüberführte, quer durch den Park direkt auf das Herrenhaus blicken. Durch die fehlende Mauer wirkte das Haus zwar noch ferner und unnahbarer, aber gleichzeitig auch verwundbarer.
Caroline hatte offenbar den gleichen Gedanken. »Mutter und ich fühlen uns wie auf dem Präsentierteller«, erzählte sie mir, als ich sie Mitte Januar besuchte. »Es ist ein Gefühl wie in einem dieser Alpträume, wo man plötzlich merkt, dass man nur im Unterrock herumläuft. Aber wir haben uns nun mal dazu durchgerungen, und nun müssen wir damit leben. Heute Morgen haben wir übrigens wieder einen Brief von Dr. Warren bekommen. Rod geht es nicht besser, es klang mir eher so, als ob sein Zustand sich verschlimmert hat. Tatsache ist, dass wohl keiner vorhersagen kann, wann er wieder so gesund ist, dass er heimkehren kann. Das Geld von dem Landverkauf wird uns über den Winter helfen, und im Frühjahr wird dann die Wasserleitung zur Farm rausgelegt. Makins meint, dass sich dann alles ändern wird.«
Sie rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Wir saßen im kleinen Salon und warteten darauf, dass ihre Mutter herunterkam. »Ich bin mir da nicht so sicher. Alles ist so ungewiss. Und was das hier angeht…« Sie gestikulierte hilflos in Richtung von Mrs. Ayres’ Sekretär, den Caroline für die Geschäftskorrespondenz nutzte. Er war über und über mit Briefen und Bauplänen bedeckt. »Dieser Papierkram ist wie Efeu! Er wuchert wirklich überallhin! Von jedem Brief, den ich an den Grafschaftsrat schicke, wollen die zwei weitere Durchschriften. Ich träume bereits von Dreifach-Ausfertigungen!«
»Sie klingen schon wie Ihr Bruder!«, äußerte ich warnend.
Sie blickte mich entsetzt an. »Sagen Sie das bloß nicht! Der arme Roddie. Inzwischen kann ich sehr viel besser verstehen, warum ihn das Geschäftliche so völlig vereinnahmt hat. Es ist wie beim Spiel: Es gibt immer einen nächsten Einsatz, bei dem man hofft, dass man nun endlich Glück hat. Aber bitte …« Sie zog den Ärmel ihres Pullovers hoch und hielt mir den nackten Arm entgegen. »Bitte kneifen Sie mich, wenn ich noch einmal so klingen sollte wie er!«
Ich nahm ihr Handgelenk, kniff ihr aber keineswegs in den Unterarm, sondern schüttelte ihn nur leicht. Es wäre auch gar nicht genügend Fleisch da gewesen, um hineinzukneifen, denn ihr sommersprossiger Arm war so mager wie der eines Jungen. Daher wirkte ihre wohlgeformte Hand größer, als sie tatsächlich war, aber seltsamerweise auch weiblicher. Als Caroline den Arm wegzog, spürte ich ihr Handgelenk kurz über meine Handinnenfläche gleiten und empfand eine merkwürdige kleine Gefühlswallung. Sie begegnete meinem Blick und lächelte, doch ich hielt ihre Fingerspitzen fest und sagte mit ernster Stimme: »Seien Sie bitte vorsichtig, Caroline. Bürden Sie sich nicht zu viel auf. Oder lassen Sie mich Ihnen wenigstens dabei helfen.«
Sie zog verlegen ihre Finger aus meiner Hand und verschränkte die Arme.
»Sie helfen uns doch ohnehin schon so viel. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, wie wir in den
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