Der Besucher - Roman
wie sehr Rodericks Benehmen sie beunruhigte, führte ich sie nach unten zu Caroline in den kleinen Salon. Ein paar Minuten später kam auch Warren zu uns.
»Das ist wirklich sehr traurig«, sagte er kopfschüttelnd. »Sehr traurig. Ich habe in Rodericks Akte gelesen, dass er nach seinem Absturz wegen einer nervösen Depression behandelt wurde, aber in dieser Zeit hat es doch keinerlei Anzeichen für eine ernstere psychische Krankheit gegeben, oder? Ist denn seitdem irgendetwas passiert, das diese Entwicklung ausgelöst haben kann? Irgendein Verlust? Ein weiterer Schock?«
Ich hatte ihm schon per Brief eine recht detaillierte Schilderung des Falles gegeben. Offenbar hatte er ebenso wie ich das Gefühl, dass dabei irgendetwas Wesentliches fehlte; dass sich der Zustand eines jungen, im Großen und Ganzen gesunden Mannes wie Roderick kaum ohne einen gewichtigen Grund dermaßen schnell verschlechtern konnte. Wir berichteten ihm noch einmal von Rodericks Wahnvorstellungen, seinen Panikattacken und den beunruhigenden Flecken auf den Wänden seines Zimmers. Ich beschrieb die vielfachen Belastungen, die er als Gutsherr und Grundbesitzer in letzter Zeit auf sich genommen hatte.
»Womöglich werden wir die Wurzel des Problems nie finden«, meinte Warren schließlich. »Aber sind Sie als sein Arzt denn wirklich bereit, ihn in meine Obhut zu geben?«
Ich erwiderte, dass ich das sei.
»Und Sie, Mrs. Ayres, als seine Mutter, sind Sie ebenfalls einverstanden, dass ich mich um ihn kümmere?«
Sie nickte.
»In diesem Falle denke ich, ist es das Beste, wenn ich ihn sofort mitnehme. Ich hatte das ursprünglich nicht geplant. Eigentlich wollte ich ihn bloß untersuchen und mit geeigneter Unterstützung in ein paar Tagen wiederkommen und ihn abholen. Aber mein Fahrer ist durchaus in der Lage, mir zu helfen, und ich möchte Ihnen in aller Offenheit sagen, dass es nicht gut wäre, Roderick noch länger hierzubehalten. Er selbst scheint auch durchaus bereit, mitzukommen.«
Warren und ich kümmerten uns um die Papiere, während Mrs.Ayres und Caroline in düsterer Stimmung nach oben gingen, um Rods Sachen zu packen und ihn zu holen. Als sie ihn herunterführten, ging er unsicher wie ein alter Mann die Treppen hinab. Sie hatten ihm seine übliche Kleidung und den Tweedmantel angezogen, doch er war so schrecklich dünn und in sich zusammengesunken, dass seine Kleidung drei Nummern zu groß erschien. Er hinkte stark, beinahe so schlimm wie vor sechs Monaten, und ich dachte mit Bestürzung an die vielen Stunden, die wir sinnlos mit seiner Behandlung vergeudet hatten. Caroline hatte versucht ihn zu rasieren, doch es war ihr nicht besonders gut gelungen, denn er hatte ein paar Schnitte am Kinn. Sein Blick huschte unruhig umher, und er fuhr sich wiederholt mit den Händen an die Lippen und zupfte daran herum.
»Gehe ich wirklich mit Dr. Warren mit?«, fragte er mich. »Mutter hat das gesagt.«
Ich bestätigte es ihm, dann zog ich ihn an ein Fenster und zeigte ihm Warrens imposanten schwarzen Humber Snipe, der draußen parkte, während der Fahrer neben dem Wagen stand und eine Zigarette rauchte. Rod betrachtete das Auto mit großem Interesse, auf seine übliche jungenhafte Art, ja, er wandte sich sogar an Dr. Warren, um ihn etwas über den Motor zu fragen. Einen Moment lang schien er wieder ganz er selbst zu sein, so wie seit Wochen nicht mehr, und beinahe hätte ich an meiner Entscheidung gezweifelt.
Aber es war zu spät. Die Papiere waren ausgefüllt und unterschrieben, und Dr. Warren machte sich zur Abfahrt bereit. Während der Verabschiedung wurde Roderick plötzlich nervös. Er erwiderte die Umarmung seiner Schwester sehr herzlich und ließ sich von mir zum Abschied die Hand schütteln. Doch als seine Mutter ihn auf die Wange küsste, huschte sein Blick wieder unstet umher. »Wo ist Betty?«, fragte er. »Ich sollte mich doch auch noch von Betty verabschieden, oder?«
Dass Betty nicht zu sehen war, schien ihn so sehr in Aufregung zu versetzen, dass Caroline rasch in die Küche lief, um sie zu holen. Das Mädchen stand mit scheuem Blick vor Roderick, und er nickte ihr mit einer ruckartigen Kopfbewegung zu.
»Ich gehe eine Zeit lang weg, Betty«, sagte er. »Du brauchst dich also in nächster Zeit um eine Person weniger zu kümmern. Aber du wirst doch mein Zimmer für mich in Ordnung halten, während ich weg bin, nicht wahr?«
Sie warf einen raschen Blick zu Mrs. Ayres hinüber und erwiderte dann: »Ja, Mr. Roderick.«
»Braves
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