Der Besucher - Roman
aufragenden Mauern und kahlen Fenster dem Nachmittag das letzte Licht entzogen. Nachdem Caroline sich die Schuhe an der Fußmatte abgewischt hatte, blickte sie am Haus empor. Wieder legten sich Müdigkeitsfalten auf ihr Gesicht, und ihre Augenpartie kräuselte sich wie die Oberfläche von aufgewärmter Milch.
Während sie das Haus betrachtete, sagte sie: »Die Tage sind noch immer so kurz. Ich hasse diese Jahreszeit, Sie nicht auch? Alles kommt mir dann noch viel mühsamer und unerfreulicher vor. Ich wünschte, Roddie wäre hier. Nun sind bloß noch Mutter und ich übrig …« Sie senkte den Blick. »Mutter ist wirklich ein Schatz. Und sie kann ja nichts dafür, dass es ihr nicht gut geht. Aber ich weiß nicht … manchmal kommt es mir so vor, als würde sie von Tag zu Tag törichter, und ich fürchte, es gelingt mir nicht immer, die Geduld zu bewahren. Rod und ich, wir hatten Spaß miteinander. Ganz einfache Dinge, irgendwelchen Blödsinn eben. Bevor er krank wurde, meine ich.«
Ich sagte leise: »Es wird bestimmt nicht mehr lange dauern, bis er wieder zurückkommt.«
»Glauben Sie das wirklich? Ich wünschte, wir könnten ihn wenigstens besuchen. Es kommt mir so unnatürlich vor, wenn ich daran denke, wie er dasitzt, allein und krank. Wir wissen gar nicht, wie es ihm geht. Denken Sie nicht, dass wir ihn besuchen sollten?«
»Wir können natürlich hinfahren, wenn Sie das gern möchten«, sagte ich. »Ich kann Sie gerne fahren. Aber Rod selbst hat Ihnen nicht zu verstehen gegeben, dass er gerne besucht werden möchte, oder?«
Sie schüttelte unglücklich den Kopf. »Dr. Warren sagt, ihm gefällt es, so abgeschottet zu sein.«
»Nun, Dr. Warren wird es sicher wissen.«
»Ja, wahrscheinlich …«
»Geben Sie ihm etwas Zeit«, meinte ich. »Wie gesagt, bald kommt der Frühling, und dann sieht alles anders aus. Sie werden sehen.«
Sie nickte energisch und wollte es nur allzu gerne glauben. Dann streifte sie sich die Schuhe noch einmal an der Matte ab und betrat mit einem widerstrebenden Seufzer das kühle, düstere Haus.
An diesen Seufzer erinnerte ich mich ein paar Tage später wieder, als ich meine Planungen für den Ärzteball des Kreiskrankenhauses machte. Der alljährliche Ball wurde veranstaltet, um Spenden zu sammeln, und bis auf die ganz jungen Leute nahm ihn niemand besonders wichtig, doch die ortsansässigen Ärzte ließen es sich trotzdem nicht nehmen, in Begleitung ihrer Ehefrauen und erwachsenen Kinder hinzugehen. Wir Ärzte aus Lidcote wechselten uns mit der Teilnahme ab. Dieses Jahr war die Reihe an Graham und mir, während unser Stellvertreter Frank Wise und Dr. Seeleys Praxispartner Morrison Bereitschaft hatten. Als Junggeselle stand es mir frei, ein oder zwei Gäste meiner Wahl mitzubringen, und vor ein paar Monaten noch hatte ich tatsächlich überlegt, ob ich Mrs. Ayres bitten solle, mich zu begleiten. Nun, wo es ihr gesundheitlich so schlecht ging, kam ihr Mitkommen natürlich nicht in Betracht, doch ich dachte mir, dass Caroline vielleicht bereit wäre, mich zu begleiten – und sei es nur, um mal einen Abend außerhalb von Hundreds zu verbringen. Natürlich war es ebenso gut möglich, dass sie verärgert reagieren würde, wenn ich sie quasi auf die letzte Minute zu einem Ball einlud, der im Grunde genommen eine Arbeitsveranstaltung war, und ich kämpfte mit mir, ob ich sie fragen sollte oder nicht. Doch ich hatte nicht mit ihrem Sinn für Ironie gerechnet.
»Ein Ärzteball!«, sagte sie erfreut, als ich sie schließlich anrief und einlud. »Oh, ja! Da würde ich sehr gern mitkommen.«
»Sind Sie sicher? Es ist wirklich nichts Tolles. Und eigentlich ist es auch eher ein Schwestern- als ein Ärzteball. Üblicherweise sind viel mehr Frauen da als Männer.«
»Das kann ich mir vorstellen! Und ich wette, sie sind alle ganz rot vor Aufregung und hysterisch, dass sie endlich mal von der Station loskommen, genau wie die jungen Frauen bei den Wrens, wenn es zu den Feiern der Marine ging. Bestimmt trinkt die Oberschwester zu viel und blamiert sich mit dem Chirurgen! Ach bitte, sagen Sie schon, dass es so ist!«
»Nur die Ruhe«, sagte ich. »Sonst gibt es ja keine Überraschungen mehr!«
Sie lachte, und ich konnte selbst über die Störungen in der Telefonleitung hinweg hören, dass sie sich ehrlich freute. Ich weiß nicht, ob sie noch andere Hintergedanken hatte, als sie zustimmte, mich zu begleiten. Für eine unverheiratete Frau ihres Alters wäre es schließlich völlig normal gewesen,
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