Der Besucher - Roman
auch an die alleinstehenden Männer zu denken, die ihr bei einer solchen Tanzveranstaltung über den Weg laufen könnten. Doch falls ihr derartige Gedanken kamen, verbarg sie sie gut. Vielleicht hatte die demütigende Erfahrung mit Mr. Morley sie gelehrt, vorsichtig zu sein. Sie sprach über den Ball, als würden sie und ich dort bloß ein paar ältliche Zuschauer sein. Und als ich sie an besagtem Abend abholte, war sie recht unauffällig gekleidet. Sie trug ein olivgrünes, ärmelloses Ballkleid, das Haar hing offen und glatt herunter, sie trug keinerlei Schmuck und im Gesicht nur wenig Make-up.
Mrs. Ayres blieb im kleinen Salon zurück, war jedoch offensichtlich gar nicht unzufrieden, mal einen Abend für sich allein zu haben. Sie hatte ein Tablett auf dem Schoß und war damit beschäftigt, einige alte Briefe ihres Mannes zu sortieren und in ordentlichen Stapeln zu bündeln.
Trotzdem behagte es mir nicht, sie sich selbst zu überlassen. »Wird Ihre Mutter auch bestimmt zurechtkommen?«, fragte ich Caroline, als wir aufbrachen.
»Aber ja«, erwiderte sie. »Vergessen Sie nicht, dass Betty auch noch da ist. Betty wird den Abend mit ihr verbringen. Die beiden spielen neuerdings immer Brettspiele miteinander, wussten Sie das noch nicht? Beim Aufräumen sind wir auf ein paar alte Spielbretter gestoßen. Sie spielen Dame und Halma.«
»Betty und Ihre Mutter?«
»Ich weiß, es klingt ulkig. Ich kann mich nicht erinnern, dass Mutter je mit Roddie oder mir Brettspiele gespielt hätte. Doch nun hat sie offenbar Gefallen daran gefunden. Auch Betty macht es Spaß. Sie spielen um Halfpennies, und Mutter lässt sie gewinnen … Ich glaube nicht, dass Betty Weihnachten bei sich zu Hause viel Spaß hatte, das arme Ding. Was ich über ihre Mutter gehört habe, klingt alles ziemlich schrecklich – da ist es kein Wunder, dass sie meine Mutter vorzieht. Die Leute mögen Mutter einfach, das war ihr immer schon gegeben.«
Sie gähnte und hüllte sich fester in ihren Mantel. Nach einiger Zeit ließen wir uns vom Fahrgeräusch des Autos einlullen – immerhin dauerte es bis nach Leamington über eine halbe Stunde – und verbrachten den Rest der Fahrt in angenehmem Schweigen.
Erst als wir auf das Krankenhausgelände fuhren, wo schon reges Treiben herrschte, wurden wir wieder munter. Der Ball wurde in einem der Vortragsräume abgehalten, einem großen Saal mit Parkettboden. Für den heutigen Abend hatte man Tische und Bänke beiseitegeräumt; die übliche grelle Beleuchtung war ausgeschaltet, und stattdessen hatte man bunte Lämpchen und Wimpelketten zwischen die Deckenbalken gehängt. Eine eher mittelmäßige Kapelle spielte gerade ein Instrumentalstück, als wir den Saal betraten. Der glatte Boden war reichlich mit Kreide eingepudert worden, und einige Paare tanzten bereits. Andere saßen an den Tischen ringsum und sammelten Mut, um sich ebenfalls auf die Tanzfläche zu wagen.
Auf einer Seite war mithilfe von Böcken und Platten eine provisorische Bar errichtet worden. Wir steuerten darauf zu, kamen jedoch nicht weit, denn ich wurde gleich von ein paar Kollegen begrüßt: Bland und Rickett; einer war Chirurg, der andere praktischer Arzt in Leamington. Ich stellte sie Caroline vor, und das übliche höfliche Geplauder folgte. Sie hielten Pappbecher in den Händen, und als Rickett sah, wie ich zur Bar hinüberschaute, meinte er: »Wollen Sie auch eine Chloroform-Bowle? Lassen Sie sich nicht von dem Namen irritieren, das Zeug schmeckt eher wie Kirschlimonade. Moment, hier kommt unser Mann!«
Er hielt einen Mann fest, der gerade hinter Caroline vorbeiging; er war Portier im Krankenhaus und hatte »beste Schwarzmarkt-Verbindungen«, wie Bland Caroline erklärte, während Rickett dem Portier etwas ins Ohr murmelte. Der Mann verschwand und kehrte kurz darauf mit vier weiteren Pappbechern wieder, alle bis zum Rand mit der wässrigen rosa Flüssigkeit aus den Bowlenschüsseln gefüllt, jedoch zusätzlich mit einem ordentlichen Schuss Brandy versetzt, wie wir beim Trinken merkten.
»Schon besser«, bemerkte Rickett, nachdem er probiert hatte, und schnalzte anerkennend mit den Lippen. »Finden Sie nicht auch, Miss …?« Er hatte Carolines Namen vergessen.
Der Brandy hatte einen harten Beigeschmack, und die Bowle war mit Sacharin gesüßt worden. Als Bland und Rickett weitergegangen waren, fragte ich Caroline: »Können Sie dieses Zeug überhaupt trinken?«
Sie lachte. »Ich habe jedenfalls nicht vor, es verkommen zu lassen. Ist der
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