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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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gedankenverloren auf der beschlagenen Scheibe herumzumalen.
    Dann sagte sie unvermittelt: »Diese Brenda, der ich heute begegnet bin, wissen Sie … Ich mag sie nicht besonders.«
    »Nein?«, erwiderte ich. »Das erstaunt mich aber. Sie haben einander doch begrüßt wie innige Freundinnen, die sich lange nicht gesehen haben.«
    »Ach, das machen Frauen doch immer.«
    »Ja. Ich habe schon oft gedacht, wie anstrengend es sein muss, eine Frau zu sein.«
    »Ja, wenn man alles richtig machen will, dann ist es das. Deshalb tue ich es auch so selten. Wissen Sie, woher ich sie kenne?«
    »Brenda? Aus Ihrer Zeit bei den Wrens, dachte ich.«
    »Nein, ich kannte sie schon kurz davor. Wir waren gemeinsam bei der Brandwache eingeteilt, ungefähr sechs Wochen lang. Wir waren völlig unterschiedlich, aber wahrscheinlich hat die Langeweile uns zusammengebracht. Sie hatte sich zu dem Zeitpunkt mit einem jungen Mann getroffen – mit ihm geschlafen, meine ich – und gerade herausgefunden, dass sie schwanger war. Sie wollte das Kind loswerden und suchte nach einem Mädchen, das mit ihr zur Apotheke ging und ihr half, irgend so ein Zeug zu kaufen. Ich sagte, dass ich mitkommen würde. Wir fuhren nach Birmingham, wo niemand uns kannte. Der Apotheker war schrecklich: ein prüder Moralapostel, der uns mit vernichtenden Blicken bedachte, zugleich schien ihn die ganze Geschichte aber auch irgendwie zu erregen. Genau wie man es erwartet hätte. Ich weiß nie, ob ich es beruhigend oder deprimierend finden soll, wenn die Menschen genauso sind, wie man sie sich vorgestellt hat. … Jedenfalls hat das Zeug gewirkt.«
    Während ich wieder schaltete, entgegnete ich: »Das bezweifle ich ehrlich gesagt. Diese Sachen wirken fast nie.«
    »Nein?«, meinte Caroline überrascht. »Dann war es bloß ein Zufall?«
    »Bloß ein Zufall, ja.«
    »Ein glücklicher Zufall für die gute Brenda. Und das nach allem, was passiert war. Aber Brenda ist genau der Typ, der immer Glück hat. Manche Leute sind einfach so, meinen Sie nicht auch?« Sie zog an ihrer Zigarette. »Sie hat sich nach Ihnen erkundigt.«
    »Was? Wer hat das?«
    »Brenda. Sie dachte, Sie wären mein Stiefvater. Und als ich ihr erzählt habe, dass Sie das nicht sind, hat sie wieder zu Ihnen rübergeschaut und die Augen so komisch zusammengekniffen und gesagt: ›So, dann lässt du dich also von deinem väterlichen Freund aushalten.‹ In diese Richtung denkt sie nun mal, was anderes kann sie sich gar nicht vorstellen.«
    Mein Gott, dachte ich. In diese Richtung schien jedermann zu denken – und vermutlich war es für alle ein Riesenspaß. »Ich hoffe, Sie haben ihr den Kopf wieder gerade gerückt!«, sagte ich. Sie schwieg und fuhr fort, auf der Scheibe herumzumalen. »Haben Sie das?«
    »Ach, ich habe sie ganz kurz in dem Glauben gelassen, wirklich nur kurz. Nur um mal auszuprobieren, ob sie es mir wirklich abnehmen würde. Sie hat sich anscheinend auch an unseren Ausflug nach Birmingham damals erinnert, denn sie sagte, bei einem Arzt müsse man wenigstens nicht so viel Angst haben, ›wenn es zu einem Unfall kommt‹. ›Das brauchst du mir nicht zu sagen, meine Liebe‹, habe ich daraufhin erwidert. ›Ich bin schon viermal gestolpert und der Doktor hat es immer richten können.‹«
    Sie zog wieder an ihrer Zigarette und meinte dann mit tonloser Stimme: »Das habe ich natürlich nicht gesagt. Ich habe ihr die Wahrheit erzählt, dass Sie ein Freund der Familie seien und mich bloß aus Nettigkeit zum Tanzen ausgeführt hätten, damit ich mal rauskomme. Ehrlich gesagt glaube ich, dass sie mich da erst recht für eine Idiotin gehalten hat.«
    »Für mich klingt es so, als sei sie eine durch und durch unangenehme junge Frau!«
    Sie lachte. »Wie prüde Sie sind! Die meisten jungen Frauen reden so – mit anderen jungen Frauen, meine ich. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich sie auch nicht besonders mag. Mein Gott, meine Füße sind völlig durchgefroren!«
    Sie zappelte einen Augenblick herum und versuchte sich aufzuwärmen. Ich bemerkte, dass sie ihre Schuhe abstreifte, und bald darauf zog sie die Beine hoch und steckte sich die Rockschöße ihres Mantels unter den Knien fest. Dann drehte sie sich seitlich zu mir um, stellte ihren bestrumpften Fuß auf der kleinen Lücke ab, die sich zwischen unseren Sitzen befand, beugte sich vor und begann sich die Zehen zu reiben, während sie in einer Hand noch die halb aufgerauchte Zigarette hielt.
    Eine gute Minute fuhr sie fort, sich die Zehen zu

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