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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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auch bloß überrascht davon. Ich war selbst überrascht, denn eigentlich hatte sie ja nichts getan, was einen solchen Tonfall rechtfertigte. Alles lag bloß an Seeley und seiner schmutzigen Phantasie – und ihn hatte ich einfach ziehen lassen.
    Schweigend fuhren wir vom Krankenhausgelände, zunächst noch in einem ganzen Pulk von Fahrzeugen, doch bald ließen wir die hupenden Autos, bimmelnden Fahrradklingeln und johlenden Menschen hinter uns und gelangten auf ruhigere Straßen. Caroline saß zusammengekauert unter der Decke, und ich merkte, wie ihre langen Glieder sich allmählich lockerten, als ihr wärmer wurde. Daraufhin hob sich auch meine Stimmung ein wenig.
    »Besser?«, fragte ich.
    »Ja, danke«, erwiderte sie.
    Inzwischen hatten wir den Stadtrand von Leamington erreicht und fuhren über unbeleuchtete Landstraßen. Der Boden war hier stärker gefroren; auf der Straße und an den Hecken schimmerte weißlich der Reif. Die Hecken schienen vor unseren Frontscheinwerfern auseinanderzuweichen, schäumten hell auf und schlossen sich dann wieder in der Dunkelheit hinter uns – wie Wasser, das vom Bug eines Bootes aufgewühlt wird. Caroline starrte eine Zeit lang durch die Windschutzscheibe und rieb sich dann die Augen.
    »Diese Straße hypnotisiert mich in der Dunkelheit regelrecht! Macht es Ihnen nichts aus?«
    »Ich bin daran gewöhnt«, erwiderte ich.
    Sie dachte über meine Antwort nach. »Ja«, meinte sie dann und blickte mich an. »Natürlich sind Sie das. Durch die Nacht zu fahren. Bestimmt warten die Leute sehnsüchtig darauf, dass sie endlich Ihr Auto hören und die Scheinwerfer sehen. Und wie froh sie sein müssen, wenn Sie dann endlich da sind. Wenn wir jetzt zu einem Krankenbett unterwegs wären, würden uns die Leute schon verzweifelt erwarten. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Macht Ihnen das keine Angst?«
    Ich griff nach dem Schalthebel. »Wieso sollte es mir Angst machen?«
    »Die Verantwortung, die Sie tragen.«
    Ich erwiderte: »Ich habe Ihnen doch vorhin schon gesagt, ich bin ein Niemand. Die meiste Zeit über nehmen die Leute mich gar nicht richtig wahr. Sie sehen bloß: ›Arzt‹. Dann sehen sie die Tasche. Die Tasche ist das Wichtigste. Das hat mir der alte Dr. Gill beigebracht. Mein Vater hatte mir zum bestandenen Examen eine brandneue, elegante Ledertasche gekauft. Gill warf einen Blick darauf und meinte, damit würde ich nicht weit kommen; niemand würde mir Vertrauen schenken. Er gab mir eine abgenutzte alte Tasche von sich. Die habe ich dann jahrelang verwendet.«
    »Trotzdem«, meinte sie nach einem Moment, als habe sie gar nicht zugehört. »Wie diese Menschen nach Ihnen Ausschau halten und sich nach Ihnen sehnen müssen! Vielleicht gefällt Ihnen das ja? Ist es das?«
    Ich blickte sie durch die Dunkelheit an: »Ist das was?«
    »Gefällt es Ihnen, dass immer irgendjemand Sie in der Nacht sehnlichst erwartet?«
    Ich gab ihr keine Antwort. Sie schien auch keine zu erwarten. Mehr als je zuvor hatte ich den Eindruck, dass etwas Unechtes an ihr war, als ob sie die dunkle, ortlose Intimität des Autos ausnutzte, um eine andere Persönlichkeit auszuprobieren – vielleicht Brendas Persönlichkeit. Sie schwieg einen Moment und begann dann zu summen, eines der Lieder, zu denen sie mit dem jungen Mann mit Hornbrille getanzt hatte. Als ich das merkte, wurde meine Stimmung schlagartig wieder schlechter. Sie griff nach ihrem Abendtäschchen und kramte darin herum. »Hat Ihr Auto einen von diesen Anzündern?«, erkundigte sie sich und zog ein Päckchen Zigaretten heraus. Ihre bleiche Hand tastete über das Armaturenbrett, dann zog sie sie wieder zurück. »Egal. Ich habe hier irgendwo auch Streichhölzer. Soll ich Ihnen auch eine anzünden?«
    »Ich kann mir selbst eine von meinen anzünden, Sie müssen sie mir bloß herübergeben.«
    »Oh, lassen Sie mich das doch bitte machen. Das ist dann genau wie im Film!«
    Ich hörte das Kratzen eines Streichholzes, und gleich darauf leuchteten ihr Gesicht und ihre Hände in der Dunkelheit auf. Sie hatte zwei Zigaretten zwischen den Lippen, zündete beide an und beugte sich dann herüber, um mir eine zwischen die Lippen zu schieben. Irritiert von der plötzlichen Berührung ihrer kalten Finger und der trockenen Zigarette, die leicht nach Lippenstift schmeckte, nahm ich sie sofort wieder heraus und hielt sie mit der Hand am Steuer fest.
    Wir rauchten eine Zeit lang schweigend vor uns hin. Sie hielt das Gesicht dicht an das Autofenster und begann

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