Der Besucher - Roman
aus!«, sagte sie, während ich ihr in den Mantel half. Sie blickte sich im Saal um und schaute zu den Dachsparren empor, wo die Wimpelketten, die offenbar noch von den Siegesfeiern übrig geblieben waren, nun in all ihrer verblichenen Schäbigkeit sichtbar wurden. »Fast so wie dieser Saal hier. Ist es nicht schrecklich, wie schnell der Glanz verschwunden ist, sobald das Licht angeht? Trotzdem wünschte ich, wir könnten noch bleiben … Auf der Toilette hat ein Mädchen geweint. Wahrscheinlich hat einer von euch garstigen Doktoren ihr das Herz gebrochen!«
Ihrem Blick ausweichend nickte ich ihren Mantel an, den sie noch nicht geschlossen hatte.
»Sie sollten lieber den Mantel zumachen. Draußen ist es eiskalt. Haben Sie denn keinen Schal mitgebracht?«
»Hab ich vergessen.«
»Dann machen Sie wenigstens den Kragen zu!«
Sie hielt den Mantel mit einer Hand zusammen und schob die andere unter meinem Arm durch, um sich bei mir einzuhängen. Das tat sie ganz ungezwungen, doch mir wäre lieber gewesen, sie hätte es gelassen. Wir verabschiedeten uns von den Grahams, dem Ehepaar aus Stratford und Brenda, der kessen Blondine, und ich war schrecklich verlegen. Mir war plötzlich, als könnte ich in allen Blicken verhaltene Belustigung sehen, und ich malte mir aus, was sie sich wohl dachten, während sie uns hinterhersahen, wie wir uns gemeinsam auf den Weg machten, auf die »lange Fahrt im dunklen Auto«, wie Seeley es formuliert hatte. Dann erinnerte ich mich wieder an die seltsame Bemerkung, die Anne Graham auf meine Frage nach Carolines Wohlbefinden gemacht hatte und die ich nun endlich verstand. Sie hatte gelacht und erwidert, dass Caroline sich »daran würde gewöhnen müssen«, vernachlässigt zu werden, so als ob sie kurz davor stand, die Frau eines Arztes zu werden. Nun wurde ich noch befangener. Nachdem wir uns verabschiedet hatten und den sich leerenden Saal durchquerten, fand ich eine Möglichkeit, Caroline vor mir herzuschieben, so dass unsere Arme wenigstens nicht mehr miteinander verschränkt waren.
Draußen auf dem Parkplatz herrschte eisige Kälte, und der Boden war gefroren, so dass sie sich gleich wieder bei mir einhängte.
»Ich habe Sie doch gewarnt, dass Sie erfrieren werden!«, sagte ich.
»Entweder das, oder ich breche mir ein Bein«, erwiderte sie. »Vergessen Sie nicht, ich trage hohe Absätze. Hilfe! Ach, du meine Güte!« Sie stolperte und lachte, dabei ergriff sie mit beiden Händen meinen Arm und zog sich noch näher an mich heran.
Ihr Verhalten ging mir auf die Nerven. Sie hatte zu Beginn des Abends den Brandy getrunken und danach ein, zwei Gläser Wein. Ich hatte mich gefreut, dass sie dadurch ein wenig ausgelassener wurde – so hatte ich es jedenfalls zu dem Zeitpunkt gesehen. Doch während sie bei den ersten Tänzen noch aufrichtig locker und beschwipst in meinen Armen gelegen hatte, kam mir ihr Taumeln nun ein wenig aufgesetzt vor. Sie sagte wieder: »Ist es nicht ein Jammer, dass wir schon fahren müssen!«, doch sie sagte es ein wenig zu fröhlich. Es war, als habe sie sich von dem Abend mehr versprochen, als dieser ihr bisher hatte bieten können, und als bemühe sie sich nun nach Kräften, noch mehr herauszuholen. Ehe wir mein Auto erreicht hatten, stolperte sie noch einmal – oder tat jedenfalls so –, und als ich sie in den Wagen setzte und ihr eine Decke um die Schultern hüllte, zitterte sie hemmungslos, und ihre Zähne klapperten wie Würfel in einem Becher. Da mein Auto keine Heizung besaß, hatte ich eine Wärmflasche für sie mitgebracht und dazu eine Thermoskamme mit heißem Wasser. Ich füllte die Wärmflasche, und sie verstaute sie dankbar unter ihrem Mantel. Doch als ich den Motor anließ, kurbelte sie das Fenster herunter und hielt – immer noch zitternd – den Kopf nach draußen.
»Was machen Sie denn da, um Himmels willen?«
»Ich schaue mir die Sterne an. Sie leuchten wirklich wunderschön heute Abend!«
»Dann schauen Sie in Gottes Namen durch das geschlossene Fenster! Sie holen sich noch eine Erkältung.«
Sie lachte: »Jetzt klingen Sie fast wie ein Arzt.«
»Und Sie«, sagte ich, fasste sie am Ärmel und zog sie wieder ins Auto zurück, »Sie klingen fast wie das alberne junge Mädchen, das Sie gar nicht sind! Jetzt setzen Sie sich bitte richtig hin und machen das Fenster wieder zu!«
Sie tat, wie ich ihr befohlen hatte, und war plötzlich ganz kleinlaut; vielleicht hatte mein ärgerlicher Tonfall sie zur Einsicht gebracht, vielleicht war sie
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