Der Besucher - Roman
massieren. Schließlich drückte sie die Zigarette im Aschenbecher am Armaturenbrett aus, hauchte in ihre Hände und legte sie flach auf ihren Spann. Sie schwieg, zog den Kopf ein und schien zu dösen. Oder vielleicht tat sie auch nur, als würde sie schlafen. In einer Kurve merkte ich, wie mein Auto über eine vereiste Stelle glitt, und musste mehrfach kurz auf die Bremse treten, bis ich fast stand. Wenn sie tatsächlich gedöst hätte, hätte dieses Manöver sie vermutlich aufgeschreckt, doch sie rührte sich nicht. Kurz darauf hielt ich an einer Kreuzung an und blickte zu ihr hinüber. Sie hielt die Augen nach wie vor geschlossen, und in der Dunkelheit wirkte sie in ihrer dunklen Kleidung wie eine Ansammlung von kantigen Teilen: das flächige, fast quadratische Gesicht mit den kräftigen Brauen, die vollen Lippen, ihr nackter Hals, die muskulösen Unterschenkel, die großen, blassen Hände.
Die einzelnen Teile gerieten in Bewegung, als sie die Augen öffnete. Sie begegnete meinem Blick; in ihren Augen schimmerte schwach das eisige Funkeln der Straße. Als sie wieder sprach, war der forsche Ton aus ihrer Stimme verschwunden; sie klang ausdruckslos, beinahe unglücklich. »Als Sie mich das erste Mal in Ihrem Auto mitgenommen haben, haben wir Brombeeren gegessen«, sagte sie. »Können Sie sich noch erinnern?«
Ich legte den ersten Gang ein und fuhr weiter. »Natürlich erinnere ich mich.«
Ich spürte noch immer ihren Blick. Dann wandte sie sich ab und blickte aus dem Fenster.
»Wo sind wir jetzt?«
»Auf der Straße nach Hundreds.«
»So nahe schon?«
»Sie müssen doch müde sein.«
»Nein, nicht wirklich.«
»Dabei haben Sie doch so viel getanzt, mit all den jungen Männern.«
»Das Tanzen hat mich eher wach gemacht«, sagte sie mit dem gleichen gedrückten Tonfall. »Obwohl ein paar der jungen Männer wirklich einschläfernd waren.«
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann schloss ich ihn wieder. Doch dann nahm ich einen zweiten Anlauf.
»Und was war mit dem Kerl mit der Hornbrille?«
Sie blickte mich neugierig an. »Sie haben ihn also doch bemerkt, oder? Der war am allerschlimmsten. Alan oder Alec hieß er, glaube ich. Er hat erzählt, dass er in einem der Krankenhauslabore arbeitet, und tat so, als sei seine Arbeit furchtbar kompliziert und wichtig. Doch das kann ich mir eigentlich kaum vorstellen. Er lebt in der Stadt ›bei Mama und Papa‹. Mehr weiß ich nicht. Er konnte sich beim Tanzen gar nicht richtig unterhalten. Eigentlich konnte er auch nicht richtig tanzen.«
Sie ließ den Kopf wieder hängen und legte die Wange an die Rückenlehne des Autositzes, und abermals stieg eine seltsame Mischung aus widerstreitenden Gefühlen in mir empor. Mit einem Hauch von Bitterkeit sagte ich: »Der arme Alan oder Alec!« Doch sie nahm die Veränderung in meinem Tonfall nicht wahr. Sie hatte das Kinn auf die Brust gesenkt, und als sie sprach, klang ihre Stimme gedämpft: »Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass mir einer der Tänze auch nur annähernd so gut gefallen hat wie unsere Tänze am Anfang des Abends.«
Ich schwieg. Schließlich fuhr sie fort: »Ich wünschte, wir hätten noch etwas von dem schwarzgebrannten Brandy. Haben Sie denn keine Flasche für Notfälle im Auto?« Sie öffnete das Handschuhfach und tastete darin zwischen den Papieren, Schraubenschlüsseln und leeren Zigarettenpäckchen herum.
»Bitte lassen Sie das«, sagte ich.
»Warum denn? Haben Sie etwas zu verbergen? Da ist doch sowieso nichts Brauchbares drin.« Sie ließ das Fach mit einem Knall zuschnappen, dann wandte sie sich um und schaute auf dem Rücksitz nach. Dabei rutschte die Wärmflasche aus ihrem Mantel und plumpste auf den Boden. Sie war wieder etwas munterer geworden. »Haben Sie denn gar nichts in Ihrer Arzttasche?«
»Seien Sie doch nicht albern.«
»Irgendwas müssen Sie doch da drin haben.«
»Sie können einen Schluck Ethylchlorid haben, wenn Sie wollen.«
»Das würde mich aber bloß schläfrig machen, oder? Ich will aber nicht einschlafen. Schlafen kann ich auch auf Hundreds genug! Mein Gott, ich habe überhaupt keine Lust, nach Hundreds zurückzufahren. Können Sie mich nicht irgendwo anders hinbringen?«
Sie bewegte sich so unruhig wie ein Kind, und durch ihre Bewegungen oder das Holpern des Autos schoben sich ihre Füße weiter über die Lücke zwischen unseren Sitzen, bis ich gerade eben die Berührung ihrer Zehen an meinem Oberschenkel spüren konnte.
Unsicher sagte ich: »Ihre Mutter wartet
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