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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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viel, manchmal.«
    »Ja, die ganzen Ausschläge und Schnittverletzungen … Oh, da fällt mir ein …« Er fasste mit der Hand an seine Hosentasche. »Was schulden wir Ihnen für Bettys Untersuchung?«
    Zuerst wollte ich gar kein Geld von ihm annehmen, da ich an die Großzügigkeit denken musste, mit der seine Mutter mir das Familienfoto überlassen hatte. Als er mich jedoch weiter drängte, sagte ich, ich würde ihm eine Rechnung schicken. Doch er lachte nur und erwiderte: »Also, wenn ich Sie wäre, würde ich das Geld jetzt nehmen, wo man es Ihnen anbietet. Wie viel berechnen Sie? Vier Schilling? Mehr? Los, sagen Sie schon. Wir sind noch nicht ganz so weit, dass wir Almosen annehmen müssten.«
    Also willigte ich schließlich ein, vier Schilling für den Besuch und das Rezept zu nehmen. Er zog eine Hand voll Münzen aus der Tasche und zählte sie in meine Handfläche ab. Währenddessen veränderte er seine Haltung, und die Bewegung schien ihm Schmerzen zu bereiten. Seine Wange zeigte wieder das angespannte Zucken, und diesmal hätte ich es beinahe kommentiert. Doch genau wie vorher bei den Zigaretten wollte ich ihn nicht in Verlegenheit bringen, also schwieg ich. Während ich den Motor anließ, verschränkte er die Arme und stand da, als fühle er sich durchaus wohl, und als ich losfuhr, hob er träge die Hand zu einem Abschiedsgruß. Dann wandte er sich um und ging zum Haus zurück. Doch ich behielt ihn im Rückspiegel im Blick und sah, wie er sich mühevoll die Stufen zur Eingangstür hinaufquälte und das Haus ihn schließlich verschluckte.
    Dann machte die Zufahrtsstraße einen Bogen und führte zwischen wild wuchernden Büschen hindurch, das Auto holperte über ein paar Bodenwellen, und das Haus war nicht mehr zu sehen.
     
    An diesem Abend war ich, wie sonntags so oft, bei David Graham und seiner Frau Anne zum Essen eingeladen. Grahams Notfall hatte trotz einiger Schwierigkeiten einen guten Verlauf genommen, und während des Essens unterhielten wir uns vor allem über diesen Patienten. Erst als wir beim Nachtisch angelangt waren – es gab gefüllten Bratapfel –, erwähnte ich, dass ich statt seiner an diesem Tag in Hundreds Hall gewesen war.
    Sofort blickte er mich mit einer Spur von Neid an. »Wirklich? Wie ist es denn jetzt dort? Die Familie hat mich schon Jahre nicht mehr da rausgerufen. Ich habe nur gehört, dass es mit dem Herrenhaus ziemlich bergab gehen soll, ja, dass sie es regelrecht haben verkommen lassen.«
    Ich beschrieb ihm, was ich vom Herrenhaus und den Parkanlagen gesehen hatte. »Es ist wirklich ein Jammer, wie sich alles dort verändert hat«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob Roderick Ahnung von dem hat, was er da tut. Es sieht mir eher nicht so aus.«
    »Der arme Roderick«, meinte Anne. »Ich habe ihn immer für einen netten Jungen gehalten. Man muss einfach Mitleid mit ihm haben.«
    »Wegen seiner Narben und der Kriegsverletzung?«
    »Ja, das auch. Aber vor allem, weil er derart überfordert ist von seinen Aufgaben. Er musste viel zu schnell erwachsen werden; wie alle Jungen seiner Generation das mussten. Doch er hatte auch immer noch Hundreds, um das er sich kümmern musste, zusätzlich zum Krieg. Und er ist ein ganz anderer Typ als sein Vater.«
    »Na ja«, sagte ich. »Das spricht doch eher für ihn. Ich habe den Colonel noch als ziemlichen Grobian in Erinnerung, ihr nicht? Als ich jung war, habe ich mal erlebt, wie er sich mit einem Autofahrer angelegt hat. Er behauptete, dessen Auto hätte sein Pferd erschreckt. Schließlich ist er aus dem Sattel gesprungen und hat den Scheinwerfer des Autos eingetreten.«
    »Ja, er war schon recht aufbrausend«, stimmte Graham zu und löffelte seinen Bratapfel. »Ganz die alte Gutsherrenart.«
    »Ein Tyrann alter Schule, mit anderen Worten.«
    »Na ja, ich wäre auch nicht gern an seiner Stelle gewesen. Die Geldsorgen müssen ihn zeit seines Lebens ziemlich gequält haben. Ich glaube, das Anwesen hatte schon viel von seinen Einkünften verloren, als er es geerbt hat. Ich weiß, dass er während der Zwanzigerjahre immer wieder Land verkauft hat; mein Vater sagte mal, es sei ähnlich aussichtslos wie Wasser aus einem sinkenden Schiff zu schöpfen. Ich habe gehört, dass die Erbschaftssteuern astronomisch hoch waren, als er starb. Wie sich diese Familie überhaupt noch halten kann, ist mir ein Rätsel.«
    »Und was ist mit Rodericks Verletzung?«, erkundigte ich mich. »Ich fand, dass sein Bein ziemlich übel aussah, und habe schon überlegt, ob

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