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Der Besucher - Roman

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Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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vorwurfsvollen Blick auffing, fügte sie rasch hinzu: »Tut mir leid. Was mit dem armen Mädchen geschehen ist, ist wirklich schrecklich, und ich würde alles tun, wenn ich es rückgängig machen könnte. Wahrscheinlich hat sie an dem Abend einen Bleistift dabeigehabt. Sie könnte natürlich auch einen von unseren genommen haben. Ich vermute doch, dass das Baker-Hyde-Mädchen hier herumgekritzelt hat. Oder haben Sie den Eindruck, dass die Kritzeleien neu sind?«
    Sie trat ein Stück zur Seite. Ihre Mutter war inzwischen ebenfalls aufgestanden und neben sie getreten. Mrs. Ayres starrte das Gekritzel mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an, einer Mischung aus Entsetzen und Faszination, so als würde sie am liebsten näher treten und mit den Fingern über das Holz tasten, dachte Caroline.
    Mrs. Bazeley wrang ihren nassen Lappen aus und machte sich wieder daran, über das Gekritzel zu wischen.
    »Ich könnt gar nich sagen, wie die aussehen, Miss«, sagte sie und keuchte, während sie mit dem Lappen über das Holz rieb. »Ich merk bloß, dass die kaum abgehen. Sie waren aber noch nich da, als wir den Saal für die Gesellschaft vorbereitet ham, oder Betty?«
    Betty blickte Caroline unsicher an. »Ich glaub nich, Miss.«
    »Ich bin ganz sicher, dass sie nich da waren«, sagte Mrs. Bazeley. »Die Stelle hier hab ich nämlich selber geputzt, jeden Zentimeter, während Betty die Teppiche gereinigt hat.«
    »Ja, dann muss es doch wohl dieses Kind gewesen sein«, sagte Caroline. »Das war unartig von ihr, wirklich sehr unartig. Versuchen Sie doch bitte, das Geschmiere abzukriegen, ja?«
    »Das mach ich doch grade!«, erwiderte Mrs. Bazeley eingeschnappt. »Aber ich sag Ihnen was. Wenn das Bleistift is, dann bin ich König George. Das geht überhaupt nich ab, das sitzt bombenfest!«
    »Bombenfest? Ist es vielleicht Tinte oder Buntstift?«
    »Ich hab keine Ahnung, was es is. Kommt mir fast so vor, als wenn’s unterm Anstrich wär!«
    » Unter dem Anstrich?«, wiederholte Caroline verblüfft.
    Mrs. Bazeley blickte kurz zu ihr hoch, überrascht von ihrem Tonfall, dann sah sie die Uhr und schnalzte: »Noch zehn Minuten, und meine Zeit is rum. Betty, du probierst es am besten mal mit Soda, wenn ich weg bin. Aber nimm auf keinen Fall zu viel, sonst gibt’s Blasen auf’m Holz …«
    Mrs . Ayres wandte sich ab. Sie hatte kein Wort über die Schmiererein verloren, wirkte auf Caroline jedoch niedergedrückt, als hätte diese unerwartete Erinnerung an die Abendgesellschaft und ihre Folgen ihr endgültig den Tag verdüstert. Langsam und ungeschickt sammelte sie ihre Sachen zusammen und sagte, sie sei müde und wolle sich ein wenig hinlegen. Da der Saal nun seinen Glanz restlos verloren hatte, hielt auch Caroline nichts mehr dort. Sie hob die Kiste mit den aussortierten Schallplatten auf, folgte ihrer Mutter zur Tür – und warf nur einen letzten Blick zurück auf die Stelle an der Holzverkleidung, wo sich die unauslöschlichen S wanden wie ein Schwarm hartnäckiger kleiner Aale.
     
    Das geschah am Samstag, wahrscheinlich etwa um die Zeit, als ich meinen Vortrag auf der Konferenz in London hielt, während mir die ganze Angelegenheit mit Caroline immer noch im Kopf herumging. Am Ende jenes Nachmittags waren die Arbeiten im Saal beendet, und der Raum wurde wieder dichtgemacht, die Fensterläden verriegelt und die Tür geschlossen. Die Kritzeleien auf der Vertäfelung, die verglichen mit den übrigen Unglücksfällen der Familie letzten Endes bloß kleinere Ärgernisse waren, gerieten mehr oder weniger in Vergessenheit. Sonntag und Montag verstrichen ohne weitere Vorkommnisse. An beiden Tagen war es kalt, aber trocken. Daher war Caroline überrascht, als sie am Dienstagnachmittag an der Tür zum Saal vorbeikam und aus dem Zimmer dahinter eine Art regelmäßiges Klopfen hörte. Zunächst vermutete sie, dass es sich um heruntertropfendes Regenwasser handelte und öffnete bestürzt die Tür, da sie befürchtete, dass sich wieder eine neue geheimnisvolle Undichtigkeit in der Decke aufgetan hatte. Kaum hatte sie die Tür geöffnet und blickte in den Saal hinein, hörte das Klopfen jedoch auf. Sie stand eine Zeit lang ganz ruhig da und spähte in den dunklen Raum. Sie konnte gerade eben die klobigen Umrisse der eingepackten Möbelstücke und die Streifen der sich ablösenden Tapete erkennen, das Geräusch war jedoch nicht mehr zu hören. Also schloss sie die Tür wieder und ging weiter.
    Am nächsten Tag jedoch hörte sie wieder ein

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