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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Verständlicherweise zögerte sie zunächst, doch schließlich schob sie die Hand vorsichtig in die Lücke und legte mit angehaltenem Atem die Handfläche auf die Holzvertäfelung.
    Wieder erklang das Klopfen, lauter als zuvor. Caroline zog erschreckt die Hand zurück, lachte aber zugleich.
    »Da ist es drin!«, sagte sie und schüttelte ihren Arm, als sei er eingeschlafen und sie wolle die Durchblutung wieder anregen. »Ich hab es in der Wand gespürt, fast wie eine kleine Hand, die da klopft. Das sind bestimmt Holzwürmer oder Mäuse. Betty, komm doch mal her und hilf mir, den Schrank abzurücken.« Sie packte eine Seite des Schrankes.
    Nun wirkte Betty doch verängstigt. »Das will ich lieber nich, Miss!«
    »Komm, es wird dich schon nicht beißen!«
    Also half das Mädchen mit. Der Schrank war zwar leicht, aber sperrig, und die beiden brauchten einige Zeit, um ihn zu bewegen. Als sie ihn absetzten, hörte das Klopfen wieder auf, so dass in der Stille deutlich vernehmbar wurde, wie Mrs. Ayres entsetzt nach Luft schnappte. Caroline sah, wie ihre Mutter die Hand ins Leere streckte und dann vor die Brust zog, als habe sie sich erschreckt.
    »Was ist denn los, Mutter?«, fragte sie, während sie immer noch damit kämpfte, die Füße des Schrankes richtig zu platzieren. Mrs. Ayres antwortete nicht. Caroline richtete den Schrank aus, dann trat sie zu ihrer Mutter und sah, worüber diese sich so erschreckt hatte.
    Auf der Wand befand sich noch mehr Kindergekrakel: SSS SSS S SU S .
    Caroline starrte die Holzvertäfelung an. »Ich glaube es einfach nicht! Das ist wirklich zu viel! Sie kann doch wohl kaum … Dieses Kind hat doch nicht etwa … Könnte sie das getan haben?« Sie blickte ihre Mutter fragend an, doch die antwortete nicht. Daraufhin wandte Caroline sich an Betty.
    »Wann wurde dieser Schrank zum letzten Mal bewegt?«
    Betty sah nun wirklich verängstigt aus. »Ich weiß nich, Miss.«
    »Nun, dann denk mal genau nach. War es nach dem Brand?«
    »Ich … Ich glaub schon.«
    »Ich glaube auch, dass er da bewegt worden ist. Du hast doch diese Wand saubergemacht, genau wie die anderen. Und da hast du keine Schmierereien gesehen?«
    »Ich kann mich nich erinnern, Miss. Ich glaub nich.«
    »Du hättest es doch aber bestimmt gesehen, oder?«
    Caroline betrachtete die Kritzeleien genauer. Sie rieb mit dem Ärmel ihrer Strickjacke daran herum. Dann leckte sie sich den Daumen und rieb mit der Daumenspitze darüber. Die Buchstaben blieben jedoch unverändert. Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
    »Könnte das kleine Mädchen das wirklich gemacht haben? Hätte sie das getan? Ich meine, sie ist irgendwann mal zur Toilette gegangen. Da könnte sie hierher gelaufen sein. Vielleicht fand sie es lustig, irgendwo hinzukrickeln, wo wir es monatelang nicht bemerken würden.«
    »Deck es wieder ab!«, sagte Mrs. Ayres plötzlich.
    Caroline drehte sich zu ihr. »Sollten wir das nicht lieber abwaschen?«
    »Das hat doch keinen Zweck. Siehst du denn nicht? Diese Zeichen sind genau wie die anderen. Es wäre besser gewesen, wenn wir sie gar nicht gefunden hätten. Ich will sie nicht sehen. Bitte stell den Schrank wieder davor.«
    »Ja, natürlich«, erwiderte Caroline mit einem Seitenblick auf Betty. Gemeinsam bugsierten sie den Schrank wieder zurück an seinen ursprünglichen Platz.
    Erst danach, als der Schrank wieder an Ort und Stelle stand, wurde Caroline sich bewusst, wie merkwürdig das Ganze war, erzählte sie mir. Zuerst hatte sie keinerlei Angst gehabt, doch je länger sie nun über das Klopfen, die Kritzeleien und die Reaktion ihrer Mutter nachdachte, desto mehr begann ihr Mut zu schwinden. In einem letzten Versuch, Courage zu zeigen, sagte sie: »Ich glaube, dieses Haus will seinen Schabernack mit uns treiben! Wir werden es einfach gar nicht mehr beachten, wenn es wieder anfängt!« Sie hob die Stimme und rief ins Treppenhaus empor: »Hörst du mich, Haus! Es hat gar keinen Sinn, wenn du uns weiter ärgerst! Wir spielen nicht mehr mit!«
    Diesmal kam kein Klopfen zur Antwort. Ihr Ruf verhallte in der Stille. Sie merkte, dass Betty sie besorgt ansah, und sagte beruhigend zu ihr: »Schon gut, Betty, du kannst jetzt wieder in die Küche gehen.«
    Doch Betty zögerte. »Geht es Madam gut?«
    »Madam geht es gut!« Caroline legte ihrer Mutter die Hand auf den Arm. »Mutter, am besten kommst du mit ins Warme!«
    Doch genau wie schon an jenem anderen Tag erwiderte Mrs. Ayres, sie würde sich lieber in ihr Zimmer zurückziehen. Sie

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