Der Besucher - Roman
vorsichtig Filzläufer über die letzten unbedeckten Teppichstreifen und hoben behutsam Spiegel von den Wänden.
Die Arie ging dem Ende entgegen. Die Grammophonnadel blieb in der Endrille hängen und produzierte ein monotones Knacken. Caroline stand auf, hob die Nadel von der Platte, und in der nun folgenden Stille hörte man das stetige Tropfen von Wasser, das aus der beschädigten Decke in Eimer und Schüsseln drippelte. Caroline sah, wie ihre Mutter aufblickte und blinzelte, als würde sie aus einem tiefen Traum erwachen, und um die melancholische Stimmung zu durchbrechen, legte sie eine weitere Platte auf, eine flotte Music-Hall-Melodie, zu der sie und Roderick als Kinder immer herummarschiert waren.
»Jolly good luck to the girl who loves a sol-dier !«, sang sie beschwingt mit. » Girls, have you been there ?«
Mrs. Bazeley und Betty begannen erleichtert, sich wieder freier zu bewegen, und beschleunigten ihren Arbeitsrhythmus, um mit dem Tempo der Musik mitzuhalten.
»Das is mal ’n schönes altes Lied!«, sagte Mrs. Bazeley wohlwollend.
»Gefällt es Ihnen?«, rief Caroline. »Mir auch! Wahrscheinlich werden Sie mir gleich erzählen, dass Sie auf Ihrer Hochzeitreise Vesta Tilley gesehen haben!«
»Von wegen Hochzeitsreise, Miss!« Mrs. Bazeley senkte das Kinn. »Ich hab nie eine gemacht. Eine Nacht bei meiner Schwester in Evesham, das war alles. Sie und ihr Mann sind zu den Kindern ins Zimmer gegangen, damit Mr. Bazeley und ich das Schlafzimmer für uns hatten. Und danach sind wir gleich bei meiner Schwiegermutter eingezogen, wo wir kaum ein Bett für uns hatten – neun Jahre nich, bis die alte Dame starb.«
»Ach, du meine Güte, der arme Mr. Bazeley«, sagte Caroline.
»Ach, den hat’s nie gestört. Er hatte immer eine Flasche Rum neben dem Bett stehen und einen Krug schwarzen Rübensirup; abends hat er seiner Mutter immer mal ’nen Löffel davon gegeben, und dann hat sie geschlafen wie ’ne Tote … Schieb mal die olle Blechkiste da rüber, Betty, Mädchen.«
Caroline lachte und sah immer noch lächelnd zu, wie Betty Mrs. Bazeley die Kiste reichte. Darin befanden sich eine Reihe schmaler Sandsäcke, die im Haus unter dem Namen »Schlangen« bekannt waren und verwendet wurden, um Zugluft abzuhalten. Mit einer Art nostalgischer Freude schaute sie Mrs. Bazeley zu, wie sie Sandsäcke auf die Fensterbänke und vor die Lücken in den Rahmen legte. Schließlich ging sie sogar selbst hinüber, holte einen Sandsack aus der Kiste und drehte ihn in den Händen, während sie die übrigen Papiere und Platten durchging.
Sie war sich zu jenem Zeitpunkt wohl undeutlich bewusst, dass Mrs. Bazeley einen leisen, verärgerten Ausruf ausstieß und dann nach Betty rief, sie solle Wasser und einen Lappen bringen. Doch es dauerte ein oder zwei Minuten, bis sie noch einmal in Richtung des Fensters blickte und die beiden Frauen sah, die Seite an Seite auf dem Boden knieten und stirnrunzelnd an einer Stelle auf der Holzverkleidung herumrieben. »Was ist denn da, Mrs. Bazeley?«, rief sie einigermaßen unbekümmert.
»Also, ich weiß ja auch nich, Miss«, erwiderte Mrs. Bazeley. »Ich könnt mir nur denken, dass es noch ein Fleck is. Von dem kleinen Mädchen, die wo gebissen wurde.«
Caroline wurde das Herz schwer, denn ihr wurde klar, dass sie in ebenjene Fensternische blickten, in der Gillian Baker-Hyde gesessen hatte, als Gyp nach ihr schnappte. Die Holzvertäfelung und die Bodendielen dort waren stark mit Blut bespritzt gewesen, doch man hatte sie gründlich gereinigt, ebenso wie das Sofa und den Teppich. Sie nahm nun an, dass irgendein Fleck einfach übersehen worden war.
Irgendetwas in Mrs. Bazeleys Tonfall oder Verhalten ließ sie jedoch aufhorchen. Sie legte den Sandsack ab und trat zu ihr ans Fenster.
Ihre Mutter blickte auf, als sie wegging. »Was ist denn, Caroline?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nichts Besonderes.«
Mrs. Bazeley und Betty traten einen Schritt beiseite, damit Caroline besser sehen konnte. Bei der Stelle, an der sie gerubbelt hatten, handelte es sich nicht um einen Fleck, sondern vielmehr um Bleistiftkritzeleien auf der Holzvertäfelung, die aussahen, als seien sie von einer Kinderhand geschrieben worden: Der Buchstabe S war mehrfach und relativ willkürlich auf die Wand gekrickelt worden, etwa so:
S SS SSSS
SS S
SS SSS
»Mein Gott!«, stieß Caroline leise hervor. »Anscheinend hat es ihr nicht gereicht, den armen Gyp zu quälen!« Als sie Mrs. Bazeleys
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