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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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hüllte sich fester in ihren Schal, und Caroline und Betty sahen ihr hinterher, wie sie langsam die Stufen emporging. Sie blieb in ihrem Zimmer, bis es Zeit zum Abendessen war, schien sich jedoch wieder ein wenig gefangen zu haben. Auch Caroline hatte sich von dem Schrecken erholt. Keine der beiden Frauen sprach mehr über die Kritzeleien. Dieser Abend und auch die beiden folgenden verstrichen ohne weitere Vorkommnisse.
     
    Doch ein paar Tage später hatte Mrs. Ayres ihre erste unruhige Nacht. Ebenso wie viele andere Frauen, die den Krieg miterlebt hatten, wurde sie durch ungewohnte Geräusche leicht wach, und in jener Nacht fuhr sie aus dem Schlaf, und ihr war, als habe jemand nach ihr gerufen. Sie blieb reglos sitzen und lauschte einige Zeit in die tiefe winterliche Dunkelheit. Da sie nichts weiter hörte, legte sie sich entspannt zurück und wollte gerade wieder eindämmern. Doch als sie mit dem Kopf das Kissen berührte, war ihr, als habe sie nicht nur das Rascheln der Bettwäsche an ihrem Ohr vernommen, sondern noch ein anderes Geräusch. Wieder setzte sie sich auf. Gleich darauf hörte sie es wieder. Es war jedoch keine Stimme. Es war auch kein Klopfen oder Trommeln. Es war mehr wie ein leises, aber deutlich vernehmbares Flattern, und es kam zweifelsohne von irgendwo hinter der schmalen Tapetentür, die sich neben ihrem Bett befand. Sie führte zu ihrem ehemaligen Ankleidezimmer, das inzwischen als Abstellkammer für Koffer und Wäschekörbe diente. Das Geräusch klang sehr merkwürdig und beschwor ein seltsames Bild herauf, und einen Moment lang bekam sie es wirklich mit der Angst zu tun. Sie dachte, dass sich irgendjemand Zugang zu der Ankleidekammer verschafft hatte und nun Kleidungsstücke aus einem der Körbe zog und sie zu Boden flattern ließ.
    Als das Geräusch anhielt, ging ihr jedoch auf, dass sie wohl das Flattern von Flügeln hörte. Wahrscheinlich war ein Vogel irgendwie durch den Kaminschacht hereingekommen und saß nun in der Kammer fest.
    Einerseits war sie nach den wilden Vorstellungen, die sie sich zunächst gemacht hatte, erleichtert über diese relativ einfache Erklärung, andererseits lag sie nun wach und lauschte, wie das arme Geschöpf in Panik herumflatterte. Der Gedanke, nach nebenan zu gehen und das Tier zu fangen, behagte ihr ganz und gar nicht. Tatsächlich hatte sie nie besonders viel für Vögel oder andere flatternde Tiere übriggehabt; sie hatte eine geradezu kindische Angst davor, dass sie ihr ins Gesicht fliegen oder in ihren Haaren hängen bleiben könnten. Doch irgendwann konnte sie es nicht länger ertragen. Sie zündete eine Kerze an und stand auf. Dann zog sie sich den Morgenmantel über, den sie wohlweislich bis zum Hals zuknöpfte, band sich ein Tuch fest um den Kopf und zog sich Schuhe und ihre waschledernen Handschuhe an. Sie kleidete sich »wie eine Vogelscheuche«, wie sie ihrer Tochter im Nachhinein erzählte, und zog dann vorsichtig die Tapetentür auf. Doch genau wie bei Carolines Erlebnis im Saal hörte das Flattern in dem Moment auf, wo sie die Tür öffnete, und der dahinterliegende Raum wirkte so, als sei dort nichts gewesen. Auf dem Boden befanden sich weder Vogelkot noch Federn, und als sie die Kaminklappe untersuchte, stellte sie fest, dass diese festgerostet war.
    Den Rest der Nacht lag sie unruhig wach, doch im Haus blieb alles still. Am nächsten Abend ging sie früh zu Bett und schlief ohne große Schwierigkeiten durch. Doch in der dann folgenden Nacht wurde sie wieder wach – wieder durch das gleiche Geräusch. Diesmal ging sie um die Ecke der Empore zu Bettys Schlafzimmer, weckte sie und ließ sie ebenfalls an der Tapetentür lauschen. Das war gegen Viertel vor drei. Betty sagte später, sie habe »was gehört«, was genau jedoch, könne sie nicht sagen. Doch als die beiden Frauen endlich den Mut gefunden hatten, in das Ankleidezimmer zu schauen, war dort wieder nichts zu finden … Dann kam Mrs. Ayres zu dem Schluss, dass wahrscheinlich ihre erste Vermutung richtig gewesen sei. Sie konnte sich die Geräusche nicht eingebildet haben, dazu waren sie zu deutlich gewesen; wahrscheinlich war der Vogel noch im Kamin selber, irgendwo hinter dem Sims, und fand nicht mehr durch den Schacht zurück nach oben. Dieser Gedanke ließ sie nicht mehr los und wirkte wahrscheinlich durch die späte Stunde, die Stille und die Dunkelheit noch bedrohlicher. Sie schickte Betty wieder ins Bett zurück, lag selbst jedoch unruhig und schlaflos da, und als Caroline am

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