Der Besucher - Roman
den sie aus dem Obergeschoss heruntergeschleppt hatte, um damit das Sofa abzudecken. »Das Zimmer hat seine Zeit gehabt – und die ist nun vorbei!«
Ihre Mutter sah sie schockiert an. »Du redest ja, als wollten wir hier ein Mausoleum einrichten!«
»Ich wünschte, das könnten wir. Vielleicht würden wir ja dann Subventionen vom Grafschaftsrat bekommen! Babb würde bestimmt gern den Umbau vornehmen. – Mein Gott, was ist das bloß für ein unhandliches Ding!« Sie warf den Filzballen zu Boden. »Tut mir leid, Mutter, ich möchte nicht respektlos klingen. Warum setzt du dich nicht lieber ein bisschen in den kleinen Salon, wenn dich das alles hier so aufregt?«
»Wenn ich an die Bälle denke, die dein Vater und ich hier gegeben haben, als du noch klein warst!«
»Ja, ich weiß. Aber Vater mochte diesen Saal sowieso nie besonders, weißt du noch? Er sagte immer, die Tapete würde ihm Übelkeit verursachen!«
Sie blickte sich um und suchte nach irgendeiner leichten Tätigkeit, mit der sie ihre Mutter beschäftigen konnte. Schließlich nahm sie Mrs. Ayres bei der Hand und führte sie zu einem Stuhl neben dem Grammophonschränkchen.
»Sieh mal«, sagte sie, öffnete den Schrank und holte einen Stapel alter Schallplatten heraus. »Wir sollten hier gleich richtig aufräumen. Die hier wollte ich schon seit Jahren mal sortieren. Komm, wir beide gehen sie jetzt mal durch und überlegen, welche wir wegwerfen können. Ich bin sicher, dass die meisten ohnehin kaputt sind.«
Sie hatte eigentlich bloß vorgehabt, ihre Mutter von den deprimierenden Arbeiten abzulenken, die um sie herum vorgingen. Doch zwischen den Platten befanden sich die verschiedensten anderen Dinge: Notenblätter, Theater- und Konzertprogramme, Menüpläne und Einladungen. Viele stammten aus der Zeit kurz nach der Heirat ihrer Mutter oder aus Carolines eigener Kindheit, und so fesselte die Arbeit beide und förderte etliche sentimentale Erinnerungen zutage. Beinahe eine Stunde lang saßen sie dort und stießen immer wieder überraschte Ausrufe hervor. Sie fanden Musik, die der Colonel gekauft hatte, und alte Tanzstücke von Rod. Dann entdeckten sie die Aufnahme einer Mozartoper, die Mrs . Ayres auf ihrer Hochzeitsreise gesehen hatte.
»Ach, ich erinnere mich noch genau an das Kleid, das ich anhatte!«, sagte sie, ließ die Schallplatte in den Schoß sinken und starrte versonnen vor sich hin. »Ein blaues Chiffonkleid mit Trompetenärmeln. Cissie und ich hatten uns gestritten, wer von uns es tragen sollte. In einem solchen Kleid hat man das Gefühl, als würde man schweben. Nun, mit achtzehn schwebt man auch noch – wir Mädchen taten es damals jedenfalls, wir waren ja kaum mehr als Kinder … Und dein Vater in seinem Abendanzug – stell dir vor, er trug einen Gehstock! Er hatte sich den Knöchel verstaucht. Bloß den Knöchel verstaucht, als er vom Pferd sprang, doch diesen Gehstock trug er bestimmt vierzehn Tage mit sich herum. Ich glaube, er dachte, dass er damit distinguiert aussähe. Er war auch fast noch ein Kind, erst zweiundzwanzig, jünger als Roderick jetzt ist …«
Der Gedanke an Roderick, der sich wie aus heiterem Himmel in ihre glücklicheren Erinnerungen drängte, belastete sie offenbar sehr, und sie blickte so wehmütig drein, dass Caroline ihr nach kurzem Zögern vorsichtig die Schallplatte aus den Händen nahm und das Grammophon aufklappte, um sie abzuspielen. Die Platte war alt, und die Grammophonnadel musste dringend ausgewechselt werden; zuerst hörten sie bloß das Knistern des Schellacks. Doch dann erklang, ein wenig verzerrt, das Dröhnen des Orchesters. Die Stimme der Sängerin schien verzweifelt dagegen anzukämpfen, bis ihr Sopran sich schließlich über die Instrumente erhob, »wie ein liebliches, zerbrechliches Wesen, das sich aus einem Dornbusch befreit«, sagte Caroline später.
Es muss ein sehr bewegender Moment gewesen sein. Draußen regnete es in Strömen, und im Salon war es ziemlich düster. Nur das Kaminfeuer und die summenden Heizöfen warfen ein beinahe romantisches Licht, so dass der Saal trotz der herunterhängenden Tapeten und der sich wölbenden Decke ein paar Minuten in seinem alten Glanz zu erstrahlen schien. Mrs. Ayres lächelte, ihr Blick war milde in die Ferne gerichtet, und ihre Finger hoben und senkten sich zum Klang der Musik. Sogar Mrs. Bazeley und Betty wurden von Ehrfurcht ergriffen. Sie gingen zwar weiter ihrer Arbeit nach, taten das aber verstohlen und leise; wie in einer Pantomime rollten sie
Weitere Kostenlose Bücher