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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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mit dem Apparat auf sich hatte, und es Mrs. Bazeley erklärt, und als am folgenden Tag die Pfeife wieder schrill erklang, nahm Mrs. Bazeley natürlich an, dass Caroline oder Mrs. Ayres aus einem der oberen Räume mit ihr sprechen wollten. Sie trat misstrauisch an den elfenbeinernen Trichter, zog die Pfeife heraus und legte das Ohr an die Öffnung.
    »Und was haben Sie gehört?«, fragte ich, während ich ihrem ängstlichen Blick folgte, der zu dem Rohr hinüberwanderte.
    Sie verzog das Gesicht. »Ein ganz merkwürdiges Geräusch.«
    »Inwiefern merkwürdig?«
    »Ich weiß auch nich. Wie ein Atmen.«
    »Ein Atmen?«, fragte ich. »Von einem Menschen? War denn da eine Stimme?«
    »Nein, da war keine Stimme. Es war eher wie ein Knistern. Nein, auch kein richtiges Knistern – mehr ein Rauschen … So wie bei der Vermittlung«, sagte sie. »Man hört die Telefonistin nich sprechen, aber man weiß doch, dass sie zuhört. Man weiß genau, dass sie da is. Oh, es war ganz merkwürdig!«
    Ich starrte sie an und war einen Moment betroffen, wie sehr ihre Beschreibung an das erinnerte, was Caroline mir über das geheimnisvolle Telefonklingeln erzählt hatte. Mrs. Bazeley begegnete meinem Blick und schauderte; dann erzählte sie, sie habe die Pfeife rasch wieder zurückgesteckt und sei aus der Küche gerannt, um Betty zu holen. Betty hatte ihren ganzen Mut zusammengenommen und ebenfalls das Ohr an die Muschel gelegt, und auch sie hatte das Gefühl, dass »irgendwas Merkwürdiges« im Rohr sei. Daraufhin waren beide nach oben gegangen, um den Ayres von der Angelegenheit zu berichten.
    Sie hatten Caroline allein angetroffen und ihr alles erzählt. Auch Caroline war sicherlich erschrocken über Mrs. Bazeleys Beschreibung; sie hörte sich die Geschichte aufmerksam an und begleitete dann die beiden Dienstboten zurück in die Küche, um selbst am Rohr zu lauschen. Doch sie hörte nichts, gar nichts. Daraufhin sagte sie, dass die beiden sich das Pfeifen wohl eingebildet hätten oder dass es vielleicht vom Wind verursacht worden sei, der ihnen »Streiche spielte«. Caroline hängte ein Geschirrtuch über die Sprechmuschel und riet den beiden Frauen, das Geräusch einfach zu ignorieren, falls es noch einmal erklingen sollte. Und nach kurzer Überlegung fügte sie noch hinzu, sie hoffe, dass die beiden Mrs. Ayres nichts von diesem neuen Ärgernis erzählen würden.
    Carolines Besuch in der Küche trug jedoch nicht viel dazu bei, die beiden Frauen zu beruhigen. Tatsächlich schien das Geschirrhandtuch die Dinge nur noch schlimmer zu machen: Nun benahm sich das Sprachrohr wie ein Papagei im Käfig. Immer wenn sie es gerade vergessen hatten und ihren ganz gewöhnlichen Tätigkeiten nachgingen, stieß es unverhofft einen seiner schrillen Pfiffe aus und versetzte ihnen einen Todesschrecken.
    In jeder anderen Umgebung wäre mir eine solche Geschichte absurd erschienen. Doch auf Hundreds Hall herrschte inzwischen eine spürbar angespannte Atmosphäre: Die Frauen waren übermüdet und nervös, und mir war klar, dass Mrs. Bazeley tatsächlich Angst hatte. Als sie mit ihrem Bericht fertig war, durchquerte ich die Küche, um mir das Sprachrohr selbst anzuschauen. Ich nahm das Geschirrtuch ab und sah eine unspektakuläre Sprechmuschel aus Elfenbein mit einer Pfeife, die auf Kopfhöhe auf einer flachen Holzhalterung an der Wand befestigt war. Man hätte sich kaum einen Gegenstand vorstellen können, der weniger unheimlich wirkte – und dennoch: Als ich daran dachte, welche Unruhe dieses Ding hatte verursachen können, kam mir sein harmloses Äußeres plötzlich irgendwie trügerisch vor. Ich fühlte mich auf unbehagliche Weise an Roderick erinnert und dachte an jene »ganz gewöhnlichen Dinge« – den Kragen, die Manschettenknöpfe, den Rasierspiegel –, die in seinen Wahnvorstellungen plötzlich ein heimtückisches Eigenleben entwickelt hatten.
    Als ich dann die Pfeife aus der Muschel zog, kam mir plötzlich noch ein Gedanke. Das Sprachrohr war für die Bediensteten im Kinderzimmer installiert worden, und meine Mutter war hier Kindermädchen gewesen. Sie musste oft durch diese Anlage gesprochen haben, vor etwa vierzig Jahren … Dieser Gedanke traf mich völlig unvorbereitet. Mir kam plötzlich die absurde Idee, dass ich die Stimme meiner Mutter hören könnte, wenn ich das Ohr an die Muschel legte. Ich glaubte beinahe, ich würde vielleicht hören, wie sie meinen Namen rief, so wie sie mich als Jungen immer am Abend nach Hause gerufen hatte, wenn

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