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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Gewölbegang hinunterführte. »Mäuse oder Ratten können es jedenfalls nicht sein. Wir haben eine Falle nach der anderen aufgestellt, aber nichts gefangen.«
    Ich betrachtete den besagten Kasten: diese gebieterische Anlage, wie ich sie einmal im Stillen genannt hatte, zu der die Drähte aus den darüberliegenden Zimmern durch Röhren und Kanäle liefen, das Nervensystem des Hauses. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass diese Drähte nicht besonders empfindlich waren und dass man manchmal ziemlich energisch an einem Hebel ziehen musste, um ein Klingeln auszulösen. Deshalb irritierte mich Carolines Schilderung auch so. Caroline brachte mir eine Lampe und einen Schraubenzieher, und ich stocherte eine Zeit lang in dem Kasten herum, doch der Mechanismus war sehr einfach; keiner der Drähte war übermäßig gespannt, und genau wie Caroline konnte ich keinerlei Defekt feststellen. Ich erinnerte mich lediglich mit einem gewissen Unbehagen an das Knarren oder Klopfen, das die Frauen vor ein paar Wochen gehört hatten; ich dachte an die durchhängende Decke im Saal, an die Feuchtigkeit, die sich immer weiter verteilte; an das hervorquellende Mauerwerk … Zwar sagte ich Caroline nichts davon, doch es schien mir ziemlich eindeutig zu sein, dass das Herrenhaus einen Grad der Baufälligkeit erreicht hatte, bei dem ein Problem beinahe zwangsläufig das nächste verursachte; und der Verfall des Hauses bedrückte und entmutigte mich stärker als je zuvor.
    Unterdessen ging das ruhelose, entnervende Treiben der Dienstbotenklingeln weiter, bis Caroline schließlich die Nase voll hatte, zur Drahtschere griff und den Verteilerkasten außer Betrieb setzte. Wenn sie oder ihre Mutter nun etwas von Betty wollten, mussten sie immer bis zum oberen Ende der Dienstbotentreppe laufen und nach ihr rufen. Oft gingen sie dann gleich in die Küche weiter und erledigten die Sache selbst – gerade so, als hätten sie überhaupt keine Dienstboten.
     
    Doch wie es schien, ließ sich das Haus nicht so leicht unterkriegen, und noch ehe eine Woche verstrichen war, trat eine neue Störung auf. Diesmal lag das Problem bei einem Relikt aus viktorianischer Zeit, einem alten Sprachrohr, das um 1880 im Herrenhaus installiert worden war, um den Kindermädchen die Möglichkeit zu geben, mit der Köchin zu kommunizieren. Es verlief vom Kinderspielzimmer im zweiten Stock nach unten in die Küche und endete in einer kleinen Sprechmuschel aus Elfenbein. Die Sprechmuschel war mit einer Pfeife zugestöpselt, die mithilfe einer dünnen Messingkette am Rohr befestigt war und tönen sollte, wenn am anderen Ende jemand in das Rohr blies. Da Caroline und Roderick beide längst erwachsen waren, hatte man das Rohr natürlich schon lange Zeit nicht mehr ernsthaft benutzt. Die Kinderzimmereinrichtung war zu Beginn des Krieges herausgerissen worden, um die Zimmer für die Offiziere der Armeeeinheit freizuräumen, die auf Hundreds Hall einquartiert wurden. Alles in allem hatte das Rohr sicherlich an die fünfzehn Jahre stumm und ungenutzt dort gehangen.
    Nun aber kamen Mrs. Bazeley und Betty zu Caroline und beschwerten sich, dass aus der Sprechmuschel plötzlich unheimliche, leise Pfeiftöne erklungen waren.
    Ich erfuhr die ganze Geschichte von Mrs. Bazeley selbst, als ich ein oder zwei Tage später in die Küche ging, um mir das Problem aus der Nähe anzuschauen. Sie berichtete, dass sie zunächst nur ein Pfeifen gehört hätten und sich nicht hatten erklären können, woher es kam. Es sei anfänglich nur ganz schwach gewesen, sagte sie, dann aber lauter geworden, »wie ein Kessel, wenn das Wasser anfängt zu kochen« – und sie hatten zunächst vermutet, dass das zischende Geräusch von einer Undichtigkeit in den Heizungsrohren herrührte, durch die Luft entwich. Doch an einem Morgen war das Pfeifen so laut und deutlich erklungen, dass nicht mehr zu verkennen war, wo es tatsächlich herkam. Mrs. Bazeley war zu diesem Zeitpunkt allein in der Küche gewesen und hatte Brote in den Ofen geschoben, und der unvermittelte, durchdringende Pfiff hatte sie so erschreckt, dass sie sich das Handgelenk verbrannt hatte. Während sie mir die Blase zeigte, erzählte sie mir, dass sie nicht einmal gewusst habe, welchen Zweck das Rohr überhaupt hatte. Sie war noch nicht so lange auf Hundreds, dass sie diese Einrichtung je in Betrieb gesehen hätte, und hatte den stumpfen Trichter mit der Pfeife immer für einen »Teil der Elektrik« gehalten.
    Erst Betty hatte sich zusammengereimt, was es

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