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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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folgten sie ihr noch einmal, diesmal nach oben durch den nördlichen Korridor bis in die Eingangshalle; und genau wie sie zuvor an der Küchenschwelle stehen geblieben waren, blieben sie jetzt ängstlich am Fuße der Treppe zurück, hielten sich an dem schlangenköpfigen Geländer fest und sahen ihr hinterher, wie sie hinaufstieg. Sie schritt zügig und beinahe lautlos in ihren Hausschuhen nach oben, und nachdem sie den Treppenabsatz im ersten Stock passiert hatte, konnten sie nur mit zurückgelegten Köpfen in den Treppenschacht hinaufblicken und verfolgen, wie sie immer weiter stieg. Sie sahen ihre bestrumpften Beine zwischen den eleganten Geländersäulen aufblitzen und gelegentlich auch eine beringte Hand auf dem Mahagonigeländer. Hoch oben im zweiten Stock hielt sie kurz inne und warf einen einzigen Blick zu ihnen herab, dann ging sie weiter über die knarrenden Bodenbretter dahin. Das Knarren der Dielen hörte man noch, als ihre Schritte schon leiser wurden, und schließlich erstarb selbst das. Mrs. Bazeley überwand ihre Furcht immerhin so weit, dass sie noch ein wenig höher stieg; weiter als bis zum ersten Stock getraute sie sich jedoch nicht. Sie hielt sich dicht am Geländer, spitzte die Ohren und versuchte in der Stille von Hundreds irgendwelche Geräusche aufzufangen, »so, wie wenn man versucht, Umrisse im Nebel zu erkennen«.
    Auch Mrs. Ayres wurde sich der immer dichter werdenden Stille bewusst, nachdem sie das Treppenhaus hinter sich gelassen hatte. Wie sie mir später erzählte, hatte sie zwar nicht direkt Angst, doch etwas von Mrs. Bazeleys und Bettys Anspannung musste sich auf sie übertragen haben, denn obwohl sie frohen Mutes die Treppe emporgestiegen war, bewegte sie sich nun sehr viel vorsichtiger. Der zweite Stock war anders konstruiert als die beiden darunterliegenden Stockwerke: Die Korridore waren schmaler und die Decken sehr viel niedriger gebaut. Durch die Glaskuppel im Dach fiel kühles, milchiges Licht ins Treppenhaus; zugleich lagen jedoch die Räume zu beiden Seiten im Schatten, ähnlich wie in der Eingangshalle. Die Räume, an denen Mrs. Ayres auf ihrem Weg zu den Kinderzimmern vorbeikam, waren vor allem Abstellkammern oder ehemalige Dienstbotenkammern und hatten schon lange leer gestanden. Die Türen waren geschlossen, um Zugluft abzuhalten, und manche der Rahmen waren zusätzlich mit Papierrollen oder Holzstückchen abgedichtet worden. Folglich war der Flur noch düsterer als früher, und da der Generator ausgestellt war, nutzten ihr auch die Schalter für das elektrische Licht nichts.
    Also bewegte sie sich durch die Düsternis, bis sie den Kinderzimmertrakt erreicht hatte. Die Tür zum Spielzimmer war ebenso verschlossen wie die anderen; der Schlüssel steckte noch im Schloss. Als sie ihre Hand nach dem Schlüssel ausstreckte, überfiel sie zum ersten Mal ein Gefühl von Beklommenheit. Wieder wurde sie sich der schweren, undurchdringlichen Stille von Hundreds bewusst, und plötzlich bekam sie unvernünftigerweise Angst vor dem, was sie hinter der geöffneten Tür finden würde. Längst vergessen geglaubte Gefühle stiegen wieder in ihr empor, und sie erinnerte sich daran, wie sie früher hierhergekommen war – genauso still und leise wie jetzt –, um ihre Kinder zu besuchen. Typische Bilder stiegen vor ihrem inneren Auge auf: Roderick, der in ihre Arme gerannt kam, sich an ihr festklammerte wie ein Äffchen und seinen nassen Mund auf ihr Kleid presste; Caroline, die höflich und reserviert danebenstand oder aber ins Malen vertieft war, während ihr das lange Haar nach vorn auf das Bild fiel. Und dann sah sie, wie aus einer anderen, längst vergangenen Zeit, Susan in einem ihrer glatt gebügelten Kleider. Sie erinnerte sich an Susans Kindermädchen, Nurse Palmer. Eine ziemlich schroffe, strenge Person, die ihr immer den Eindruck vermittelt hatte, dass ihre Besuche hier oben unerwünscht seien, gerade so, als ob sie ihr Kind häufiger sehen wollte, als es schicklich war. Während Mrs. Ayres die Tür aufschloss, erwartete sie schon fast, Nurse Palmers Stimme zu hören und den Raum genauso vorzufinden, wie er einmal gewesen war. Sieh mal, Susan, da ist deine Mami schon wieder, um nach dir zu schauen! Mami kann einfach nicht wegbleiben!
    Doch das Zimmer, das sie nun betrat, hätte kaum gesichtsloser und trister sein können. Die Kinderzimmereinrichtung war, wie ich bereits erwähnt habe, schon vor Jahren ausgeräumt worden, und in dem leeren Raum hallte jeder Schritt wider. Die

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