Der Besucher - Roman
Einen Moment war es still, dann kamen die Schritte zurück. Und danach huschte die rätselhafte Gestalt wieder und wieder an der Tür vorbei; sie konnte durch das Schlüsselloch nur einen verschwommenen Schatten erkennen, keinerlei Umrisse, kein Gesicht. In ihrem wachsendem Entsetzen fiel ihr zunächst nur eine Erklärung ein: dass es sich bei der Gestalt wohl doch um Betty handeln musste, das Mädchen aber irgendwie den Verstand verloren hatte und jetzt wie eine Wahnsinnige im Kinderzimmerflur auf und ab rannte.
Doch beim nächsten Mal schien die trippelnde Gestalt näher an der Tür vorbeizukommen und sie mit dem Ellenbogen oder der Hand zu berühren; und bei den folgenden Malen wurden die trippelnden Schritte von einer Art leisem Kratzen begleitet. Da begriff Mrs. Ayres plötzlich, dass die Gestalt im Vorbeilaufen mit den Fingernägeln über die Holzpaneele kratzte. Vor ihrem inneren Auge sah sie deutlich eine kleine Hand mit spitzen Nägeln, eine Kinderhand, wie ihr klar wurde, und diese Vorstellung war so erschreckend, dass sie panikartig von der Tür wegkroch und sich dabei die Strümpfe an den Knien aufriss. Erst mitten im Zimmer stand sie wieder auf und bebte vor Entsetzen.
Und nun, als die Schritte gerade am lautesten zu hören waren, hielten sie plötzlich inne. Da wurde ihr klar, dass die Gestalt auf der anderen Seite der Tür stehen musste; sie sah sogar, wie die Tür sich ganz leicht im Rahmen hin und her bewegte, so als würde jemand dagegendrücken und probieren, ob sie sich öffnen ließ. Sie starrte das Schloss an und rechnete damit, gleich die Drehung des Schlüssels zu hören und die Bewegung des Türknaufs zu sehen, und wappnete sich schon innerlich vor dem, was sich ihr wohl zeigen würde, sobald die Tür aufging. Doch nach einem schier endlosen Moment der Ungewissheit verharrte die Tür an ihrem alten Platz in den Angeln. Mrs. Ayres hielt den Atem an, bis sie nur ihren eigenen stürmischen Herzschlag hören konnte, der über der Stille zu schweben schien.
Dann, plötzlich, erklang hinter ihrer Schulter ein durchdringender Pfeifton aus dem Sprachrohr.
Sie hatte sich innerlich so vollständig auf einen ganz anderen Schrecken vorbereitet, dass sie nun mit einem lauten Aufschrei von dem elfenbeinernen Mundstück wegsprang und beinahe gestürzt wäre. Das Rohr verstummte, dann pfiff es noch einmal, und danach erklang der Pfeifton ganz regelmäßig, eine Folge von schrillen, lang anhaltenden Luftstößen. Man konnte unmöglich länger davon ausgehen, so sagte sie, dass es sich bei diesem Geräusch um das zufällige Produkt eines Windstoßes oder eine andere akustische Zufälligkeit handelte: Dieses Pfeifen war gezielt und fordernd – ähnlich wie das Heulen einer Sirene oder der Schrei eines hungrigen Säuglings. Ja, es war ein derart entschlossenes, vorsätzlich ausgeführtes Signal, dass Mrs. Ayres trotz ihrer Panik der Gedanke kam, es könne am Ende eine ganz einfache Erklärung dafür geben. Schließlich wäre es doch möglich, dass Mrs. Bazeley, die sich um die Sicherheit ihrer Dienstherrin sorgte, aber trotzdem nicht bereit war, ihr in den zweiten Stock zu folgen, in die Küche zurückgekehrt war und nun versuchte, von dort aus mit ihr in Verbindung zu treten. Immerhin gehörte das Rohr zu der ganz normalen, alltäglichen Welt der Menschen auf Hundreds – anders als jene unerklärliche herumtrippelnde Gestalt draußen auf dem Korridor. Also nahm Mrs. Ayres noch einmal ihren ganzen Mut zusammen, trat zum Kaminsims und griff nach dem schrill pfeifenden Ding. Mit zitternden Fingern zog sie unbeholfen die Elfenbeinpfeife aus dem Trichter – woraufhin natürlich sofort Stille einkehrte.
Doch ganz still war das Ding in ihrer Hand nicht. Als sie nämlich den Trichter an ihr Ohr hielt, konnte sie ein schwaches Geräusch hören, eine Art leises, feuchtes Rascheln, so als würde nasse Seide oder ein ähnlich feiner Stoff langsam durch das Rohr gezogen. Das Geräusch, so wurde ihr mit Schrecken klar, war das eines gequälten, schweren Atems, der immer wieder innehielt, wie in einer stark verengten Kehle. Augenblicklich fühlte sie sich achtundzwanzig Jahre zurückgeworfen, an das Krankenbett ihres ersten Kindes. »Susan?«, flüsterte sie den Namen ihrer Tochter, und darauf wurde das Atmen schneller und feuchter. Aus dem feuchten, gepressten Gurgeln erhob sich eine Stimme; die Stimme eines Kindes, wie sie meinte, hoch und herzzerreißend, die wie unter großen Qualen versuchte, Worte
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