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Der Besucher - Roman

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Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Sohn in jener letzten, schlimmsten Phase seiner Wahnvorstellungen erinnerte. Das Haar hing ihr in zotteligen Strähnen über die Schultern, und ihre Arme und Hände sahen schrecklich aus. An ihren klobigen Ringen klebte Blut und hatte alle Edelsteine in Rubine verwandelt.
    Wie sich glücklicherweise herausstellte, waren ihre Verletzungen nur oberflächlich. Ich desinfizierte und verband die Wunden und nahm dann Carolines Platz neben ihr ein. Ich saß einfach nur da und hielt ihr die Hände. Nach und nach verschwand der gehetzte Ausdruck aus ihrem Blick, und sie berichtete mir, was ihr geschehen war, während sie bei jeder neuen schrecklichen Wendung der Geschichte erschauerte und die Hände vor das Gesicht schlug.
    Doch schließlich blickte sie mir eindringlich in die Augen.
    »Verstehen Sie, was passiert ist?«, sagte sie. »Verstehen Sie, was das bedeutet? Ich habe sie im Stich gelassen, Herr Doktor. Sie ist gekommen, und ich habe sie enttäuscht!«
    Sie umklammerte meine Finger so fest, dass ihre Wunden wieder aufgingen und das Blut an die Oberfläche des Verbandes drang.
    »Mrs. Ayres«, sagte ich und versuchte sie zu beruhigen.
    Doch sie hörte mir gar nicht zu. »Mein liebes, liebes Mädchen. So sehr habe ich mir gewünscht, dass sie wiederkommt, verstehen Sie? Ich habe sie gespürt , hier, in diesem Haus. Ich habe in meinem Bett gelegen und gespürt, dass sie in meiner Nähe war. So nah bei mir war sie! Doch ich war zu gierig, ich wollte sie noch näher bei mir haben. Mit meinem Wunsch, sie ganz nahe bei mir zu haben, habe ich sie angezogen. Und dann ist sie gekommen – und ich habe mich gefürchtet! Ich habe mich vor ihr gefürchtet und sie enttäuscht! Und jetzt weiß ich nicht, was mir mehr Angst macht: die Vorstellung, dass sie nie wieder zu mir kommen wird, oder der Gedanke, dass sie mich nun hasst, weil ich sie im Stich gelassen habe. Wird sie mich nun hassen, Herr Doktor? Bitte sagen Sie mir, dass sie mich nicht hassen wird!«
    »Niemand hasst Sie«, erwiderte ich. »Bitte beruhigen Sie sich.«
    »Aber ich habe sie enttäuscht! Ich habe sie im Stich gelassen!«
    »Sie haben niemanden im Stich gelassen. Ihre Tochter liebt Sie.«
    Sie blickte mich an. »Meinen Sie das wirklich?«
    »Aber natürlich tut sie das.«
    »Versprechen Sie es mir?«
    »Das verspreche ich Ihnen«, sagte ich.
     
    In jenem Moment hätte ich ihr wohl alles versprochen, bloß um sie zu beruhigen. Bald verbot ich ihr weiterzureden, gab ihr ein Beruhigungsmittel und brachte sie zu Bett. Sie lag noch einige Zeit unruhig da und hielt meine Finger mit ihren verbundenen Händen fest, doch das Beruhigungsmittel war stark, und nachdem sie eingeschlafen war, löste ich meine Finger vorsichtig aus ihrem Griff und ging nach unten, um den Vorfall mit Caroline, Mrs. Bazeley und Betty zu besprechen. Sie hatten sich im kleinen Salon versammelt und wirkten kaum weniger blass und erschüttert als Mrs. Ayres. Caroline hatte Gläser mit Brandy verteilt, und der Alkohol in Verbindung mit dem Schrecken hatte Mrs. Bazeley ganz weinerlich gestimmt. Ich befragte sie und Betty so eindringlich ich eben konnte, doch sie konnten Mrs. Bazeleys Bericht lediglich darin stützen, dass diese allein in den zweiten Stock hinaufgegangen und so lange dort oben geblieben sei – etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten, wie sie sagten –, dass sie anfingen, sich Sorgen um sie zu machen, und nach draußen gelaufen waren, um Caroline zu warnen. Dann hätten alle drei sie dort oben am zerbrochenen Fenster gesehen und ihr entsetzliches Kreischen gehört.
    Nachdem ich mir ihre Version der Dinge zusammengesetzt hatte, ging ich ins Kinderspielzimmer hinauf, um mir den Schauplatz mit eigenen Augen anzusehen. Ich war zuvor noch nie im zweiten Stock gewesen und stieg argwöhnisch und ziemlich aufgewühlt von der Stimmung im Haus die Treppen empor. Das kahle Zimmer mit der zerbrochenen Scheibe und den dunkel gerinnenden Blutspuren wirkte abscheulich auf mich. Doch die Tür ließ sich problemlos in ihren Angeln bewegen, und auch der Schlüssel drehte sich ganz leicht. Ich versuchte sowohl bei offener als auch bei geschlossener Tür den Schlüssel zu drehen; einmal warf ich die Tür sogar heftig zu, um zu prüfen, ob dadurch vielleicht der Mechanismus behindert wurde – doch auch das hatte keinerlei Veränderung zur Folge. Ich hielt das Ohr wieder an jenes unselige Sprachrohr, hörte jedoch genau wie vorher nichts. Also ging ich, genau wie Mrs. Ayres, weiter in das ehemalige

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